[HelmutL]

Hallo Lucie,

ich habe das Gefühl, daß deine Mutter in eurer Familie diejenige war, die alles zusammengehalten und gepuffert hat? Das könnte bedeuten, mehr oder weniger jeder hätte "sein Ding" gemacht und sie hätte vermittelt bzw. den ein oder anderen auch mal ausgebremst. Der oder die ein oder andere hat vielleicht mehr oder weniger unbewusst die Verantwortung für das eigene Tun im Bezug auf die Familie auf sie abgeschoben. Wenn ich davon ausgehe (ich weiß ja nicht wirklich, ob meine Annahme stimmt) und in dieser Hinsicht jeder so weiter macht, wie bisher, sind deine Sorgen durchaus real. Deine Mutter ist nicht mehr da, um zu schlichten oder ihre Familie zusammen zu halten. Jetzt muss jeder die Verantwortung für das eigene Tun selber tragen.

Das Einzige, was prinzipiell immer hilft, ist: miteinander reden. Egal, ob ich nun mit meiner Annahme recht habe oder nicht. Du hast selber genug mit deiner Trauer zu tun und auch mit den Alltagsdingen um dich herum. Ich glaube kaum, daß du den Part deiner Mutter einfach so übernehmen kannst. Das kann über deine Kräfte gehen und alles wäre noch schlimmer. Du trauerst, bist dadurch verletzlich und angreifbar. Du weißt selber nicht so ganz, wo du stehst, musst dich erst mal selber neu erfinden.

Eine Familie ist eine Familie. Man liebt sich untereinander. OK, so weit, so gut, das ist die Idealvorstellung. Prinzipiell stimmt das auch. Doch sie besteht aus mehr oder weniger Menschen und die sind verschieden. Es gibt manchmal auch Menschen in einer Familie, die zwar auf Familie pochen, doch eigentlich nur sich selber lieben und sehen. Vielleicht aus Angst vor dem Alleinsein oder weil sie Macht ausüben wollen? Und es gibt oft auch Menschen, die tragen immer ein Päckchen mit Pflaster bei sich, um zu kleben und zu kitten und sich selbst dabei (fast) vergessen. Das sind zwei Extreme. Sich in Mamas/Tochters selbst gestricktem Pullover zu wärmen, ist ganz leicht. Friede um jeden Preis? Nein. Es darf nicht zur Selbstaufgabe kommen.

Jeder hat das Recht, mal schlecht gelaunt zu sein.
Jeder hat das Recht, auf eigene Weise zu trauern.
Niemand ist dagegen gefeit, auch mal was Dummes zu sagen.
Niemand hat das Recht, andere zu verletzen. Aus welchem Grund auch immer.

... und jeder hat die Pflicht, die Verantwortung für sich selbst zu tragen.

Wenn jemand also partout gehen will, so soll er es tun und wenn jemand meint, andere verletzen zu dürfen, so muss er mit Gegenwehr rechnen. Dabei ist es vollkommen gleichgültig, wie alt er/sie ist oder welche Position er/sie innerhalb der Familie einnimmt. Klingt hart, ist aber so. Leben heißt eben auch in der Familie nicht immer "Friede, Freude, Eierkuchen". Doch es ist dein Leben, das solltest du versuchen nach deinen Vorstellungen in Liebe zu deiner Familie zu verwirklichen. Manchmal ein gewaltiger Spagat.

Reden, reden und nochmals reden ist wichtig. Zuhören nicht minder. Versuchen zu verstehen, auch wenn es nicht immer so ganz gelingt. Liebe und Verständnis zeigen, wo immer möglich, und "Stopp!" sagen, wo nötig und irgendwann eventuell auch mal "Schluss!" sagen, wo es nicht mehr anders geht um sich nicht selbst zu verraten.

Sollte ich mit meinen Gedanken total daneben liegen ... um so besser. Bitte vergesse sie dann. Vielleicht ist der ein oder andere Gedanke doch zu gebrauchen?

Ich weiß, wie schwer es ist, in einem Kreis wieder den Schulterschluss zu finden, wenn sich plötzlich eine für alle schmerzhafte Lücke auftut. Ich hoffe für dich und deine Familie, daß ihr das schafft. Vielleicht nicht heute, dann vielleicht Morgen oder Übermorgen.


Ich drück dir die Daumen,

Helmut