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Alt 05.11.2002, 12:02
Gast
 
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Standard Kübler-Ross und ihr Sterbephasen Modell

Hallo, Tanja,
das mach mir aber mal vor, bei der Diskussion von Angehörigen auszugehen und dabei den Patienten außer acht lassen. Es dreht sich immer um beide und ich habe schon einmal geschrieben, ich schreibe hier weder als Angehörige noch als Betroffene, sondern nur als Mensch, der sich nicht auf irgendein Modell verlassen möchte, was jemand anderer sich zurechtgelegt hat, weil er/sie - ganz subjektiv und beeindruckt von ihrem Empfinden des Todes anderer Menschen - etwas niedergeschrieben hat, von dem sie meint, das ist kann man jetzt auf alle übertragen. Egal wie auch immer man sich anstellt, sie findet schon in ihrem Schema die entsprechende "Phase". Den besonderen Freibrief stellt sie sich ja auch noch dadurch aus, dass sie zwar einerseits die Phasen beschreibt, dann jedoch butterweich die Kurve kriegt, indem sie sagt, die Phasen müssen nicht so ablaufen, die Phasen müssen nicht alle passieren, die Phasen können in anderer Reihenfolge ablaufen... Da liegt die "Schuld" dann auch noch beim Sterbenden, der sich nicht richtig mitteilt oder bis zum Schluss die Fakten halt nicht akzeptiert.
Natürlich ist es schwer, einen Angehörigen gehen zu lassen. Aber das ist es doch in jedem Fall, oder? Wenn ich jemanden liebe, dann möchte ich, dass er bei mir bleibt und nicht geht. Wenn ich einen mir liebgewordenen Menschen verliere, ist das ein riesiger Verlust. Wenn Deine Mutter sich dafür entschieden hat, nicht noch mehr "Versuche" zu ertragen, um ein absehbares Ende nur zu verlängern, mußt Du das akzeptieren. Sie hat es Dir ja wahrscheinlich gesagt. Da klangst sehr sicher. Aber brauchtest Du dann noch eine Anleitung, wie Du mit ihr umzugehen hast? Oder eine Übersetzung, wie Du ihre Gesten zu deuten hast? Das hast Du doch sicherlich in dir drin gespürt, oder? Wenn nachträglich etwas in bestimmte Sätze oder Gesten hineininterpretiert wird, ist das sehr zweifelhaft, finde ich. Der Betroffene selbst kann ja nicht mehr widersprechen. Die Wahrheit ist, dass niemand genau sagen kann, welche Gedanken im Kopf eines anderen sind. Die Wirklichkeit sieht dann so aus, dass man sich alles nachträglich dank einschlägiger Literatur so zurechtlegen kann, dass man besser damit umgehen kann. Ich erinnere mich lieber an die Liebe, die uns verband und das Umarmen und den Halt, den wir uns gegenseitig gegeben haben. Das habe ich ganz real empfunden, daran kann ich mich erinnern. Wenn ich ein solches Buch im Hinterkopf hätte und es für richtig und gut befinden würde, könnte ich mich doch gar nicht mehr spontan entscheiden und wäre beeinflusst. Schau Dir mal Kinder an, wie sie mit einer solchen Situation umgehen. Sie stellen ganz unschuldig die härtesten Fragen. Aber ist es nicht einfacher, damit umzugehen? Sie fragen das, was sie wissen möchten. Sie haben keine Anleitungen und erfahren dennoch manchmal viel, viel mehr als andere, weil sie sich einfach trauen, zu fragen. Und zwar genau in dem Moment, wo etwas passiert. Nicht im Nachhinein.
Ich finde es übrigens sehr viel herausfordernder, dem Leben entgegen zu blicken, als den Tod als Fixpunkt im Kopf zu verankern. Aber auch ich habe das schon weiter oben geschrieben, die Entscheidung darüber liegt beim Betroffenen selbst. Und ich spreche ja hier auch niemandem das Recht dazu ab??? Allerdings hat der Betroffene ja im Zweifelsfall keine Wahl, wer sich denn um ihn kümmert. Jemand, der unvoreingenommen mit ihm umgeht und seine Sicht der Dinge akzeptiert, oder jemand, der nur so tut als ob und im Hinterkopf immer nachschlägt, wie man bestimmte Reaktionen zu deuten hat und wie ein dressierter Hund darauf reagiert. Ist jetzt wahrscheinlich wieder zu krass für die zarten Seelen, aber ich weiss bald nicht mehr, wie ich es sonst noch ausdrücken soll, was mich an diesem Modell so annervt.
Und ob die verbleibenden Minuten qualitativ hochwertig sind und quantitativ vielleicht trotzdem eine Menge ausmachen, liegt ja wohl eher daran, was ich aus meinem Leben mache, oder? Dann ist nämlich jede Minute kostbar.
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