[Linnea]

Liebe Ina,

Deine Standort-Bestimmungen sind immer so exakt, Du kannst Deine Situation so gut beschreiben, daß ich sie mir sehr gut vorstellen kann. Sicherlich nicht bis in jedes Detail, aber doch in den Umrissen und Grundlinien. Und ich entdecke Ähnlichkeiten zu mir, auch wenn ich in vielerlei Hinsicht in einer völlig anderen Lage bin.

Was mir bekannt vorkommt, ist zum einen die Verletzlichkeit. Fühlt es sich bei Dir auch so an, als würden schlecht gewählte Worte, Äußerungen, Verhaltensweisen körperliche Schmerzen verursachen? Inzwischen kommt es mir so vor, als sei der Bezug zur Haut in dem Begriff "Dünnhäutigkeit" nicht nur metaphorisch zu verstehen, sondern als würden tatsächlich bestimmte periphere Nervenbereiche mitreagieren.

Zum andern der Rückzug: auch ich habe das Gefühl, daß ich mich mehr zurückziehe. Aber das ist, wie Du ja schon schreibst, eine geradezu logische Folge der Empfindlichkeit, eine Selbstschutzreaktion, die - wie ich denke - nicht nur problematische Seiten hat. Natürlich wäre es bedenklich, wenn dieser Rückzug zur totalen Abschottung führen würde, keinerlei Kontakt mehr möglich wäre oder auch ein permantes psychisches Absinken damit einherginge. Aber ein Rückzug in einen eigenen inneren Regenerationsraum ist - so glaube ich - sehr wichtig.

Da Du schreibst, daß Dein Rückzug nicht von bedrängender Enge und Isolation geprägt ist, sondern sogar auch Lachen in ihm möglich ist, scheint mir Dein "Schneckenhaus" mit diesem persönlichen Erholungsort identisch zu sein. Auch Dein Weinen-Können - vielleicht auch die jetzt überraschend wirkenden Tränen, die ehemals ungeweint blieben? - scheint mir ein Hinweis darauf zu sein, daß bei Dir ein seelischer Regenerationsprozeß im Gange ist.

Ich glaube auch, daß man diesen inneren Raum mit äußeren Mitteln stützen kann. Ich weiß nicht, was Dir in diesen Zeiten guttut, woraus Du Deinen Erholungsraum baust. Ich zünde oft Kerzen an, auch bewußt nur für mich alleine. Ich bete. Farben sind mir sehr wichtig geworden, das habe ich früher nie so stark empfunden, aber momentan habe ich das Gefühl, etwas malen oder basteln, irgendwie mit Farben "hantieren" zu müssen.

Liebe Ina, ich möchte nur sagen: Habe keine Angst vor dem Rückzug, wenn er Dir guttut. Gönne Deiner Seele, enger zu kreisen, wenn sie es braucht. Sie wird Dir signalisieren, wenn sie ihre Bahnen wieder ausweiten möchte.

Herzliche Grüße von
Deiner Linnea