Thema: Stammtisch
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Alt 01.03.2009, 14:18
Blue Blue ist offline
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Standard AW: Stammtisch

Der erste Tag in einem schon wieder anderen Leben. Nix scheint mehr wie zuvor, irgendwie ein ähnliches Gefühl und doch nicht. Ich weiß, es ist nur ein Job, dazu noch meist ungeliebt. Und doch war es ein fester Bestandteil in meinem Leben mit Jürgen.

Vor 10 Jahren Diagnosestellung, ab da ein Leben im Ausnahmezustand. Mitunter panische Unruhe in mir und ich durfte immer gehen, war kein Problem. Während der Krankheit haben sie mir sehr viel ermöglicht, die wertvollste Zeit in meinem Leben haben sie mir geschenkt. Innerhalb einer Woche konnte ich meinen Arbeitsplatz verlasen. Sie haben meinem Wunsch nach Kündigung erfüllt, noch 3, 4 Tage gearbeitet – ja Inventur – und dann sagte ich zu Jürgen „jetzt lasse ich dich nicht mehr alleine“, ging nicht mehr arbeiten, und war bei ihm. Noch immer unbegreiflich was in den Wochen geschah, noch immer unbegreiflich wie das alles ging. Und dann war Jürgen nicht mehr da.

Meine Kündigung wurde zurückgenommen, ich machte dort weiter wo ich aufgehört hatte, dankbar für die Möglichkeit. Schwierige Zeiten dort, nicht greifbare Veränderungen oder hatte ich mich verändert? Sehr viel Kurzarbeit, alles sehr schwierig, manchmal fast nicht auszuhalten und ich wurde und wurde nicht mehr heil.

Das letzte Jahr begann – das erste Jahr ohne meinen väterlichen Kollegen, dafür ein anderer Kollege. Ein verrücktes, turbulentes und wunderschönes Jahr – außerhalb der Arbeit. Manchmal begann ich bei der Arbeit wieder zu erzählen, vom Gleichklang, von wunderschönen Stunden und Tagen, ich erzählte von den unzähligen Kleinigkeiten die ich wieder sehen/finden/fühlen kann und darf. Meinem jüngeren Chef fehlten oftmals die Worte und doch hat er sich mit mir gefreut, es „verschlug“ ihm die deutsche Sprache (er ist in USA groß geworden) und manchmal blinzelte er ein Tränchen weg. Unsere Wortgefechte werde ich vermissen, ebenso sein Erstaunen über das eine oder andere.

Nach dem Insolvenzantrag, dem fehlendem Gehalt von 2 Monaten und Auflösung der Firma habe ich nun nach fast 18 Jahre meinen Arbeitsplatz gekündigt und gehe in die Arbeitslosigkeit. Auf die 3 Monate Kündigungsfrist von Arbeitsgeberseite habe ich verzichtet – das Gehalt wäre Insolvenzmasse und nicht absehbar, ob, wann und wieviel bei mir ankommen würde.

Das Vorstellungsgespräch bei meinem alten Chef werde ich nie vergessen, ebenso sein letzter Blick. Ich konnte nichts mehr sagen und er bedankte sich für die Arbeit. Beim Jüngeren stand ich in der Tür. Er schaute mich nicht mal an und sagte nur „kein Wort“. Dafür bekam er einen Stupser und… kein Wort. Nach 18 Jaren habe ich meinen Schlüssel abgegeben, ein Blick in mein Büro. Das wars.

Mit dem Betriebsrat noch die letzte Zigarette auf dem Bänkchen geraucht und dann ging es ab zu den Kollegen ins Städtle. Es war ein Tisch zum nachklingen bestellt und fast alle kamen. Wir haben gelacht und geweint und endlich habe ich mit meinem jüngeren Chef ein Bier getrunken – ohne ein Wort. Vermutlich hat er all die Worte in meinen Augen gelesen und doch wird er die Worte noch bekommen – ihm habe ich meine Freistellung für die Pflegezeit von Jürgen zu verdanken.

Eben schug ich die Zeitung auf und las eine Stellenanzeige, gesucht wird eine Frau mittleren Alters. Ist das nicht schön ausgedrückt? Klingt doch so viel besser als meine Formulierung. Leider nur ein 10-Stunden Job, also nix für mich. Nach Hakentour, drei Tränchen, ein wenig Verzweiflung und auch Unverständnis bewegt sich etwas in mir. Wie war das noch gleich? Stecke ich schon mittendrin im „mache ich aus unten oben“? Und schön passend mein Kalenderspruch für diesen Monat:

Das alles seine Zeit hat,
heißt auch,
dass alles seine Zeit braucht.

Ernst Ferstl

Der Tag heute ist genauso sonnig wie gestern. Nachdem nun Jürgens Wohnungsspinne im Wohnzimmer wieder eingezogen ist, werde ich dann wohl morgen auf dem Balkon wieder einziehen – gleiches Recht für alle….

Grüßle
Bruni
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