AW: Myriam
Fassade.
Es ist schon verblüffend, wie man auf seine Umgebenung reagiert. Nur wenige sprechen es aus, doch viele denken es: "Es ist genug. Komm wieder runter, das Leben geht weiter. Genug getrauert. Es reicht."
Es gibt sogar solche Menschen, die helfen dabei. Unbewusst. Nämlich eine Fassade aufzubauen. Das Leben ist wieder schön, alles geht wieder seinen normalen, gewohnten Gang. Eine zeitlang glaubt man das sogar selbst. Bis es dann irgendwann anfängt: der mühsam aufgebrachte Putz beginnt zu bröckeln. Schnell wird ausgebessert, soll ja niemand sehen. Die Fassade muss glänzen.
Für wen muss sie glänzen? Für die Anderen, die draussen stehn? Für mich selbst?
Für die Anderen, damit sie nicht sehen müssen, wie es mir tatsächlich geht. Damit sie nicht beunruhigt oder belästigt werden. Es wäre ihnen unangenehm. Is doch alles abgehakt, nicht schon wieder! Was denn jetzt noch! Wir haben doch unseren Alltag, den möchten wir nicht stören lassen.
Für mich selbst, damit niemand sieht, wie es mir tatsächlich geht. Niemand soll belästigt, vielleicht sogar verletzt werden. Ich könnte ihnen damit weh tun. Ich muss die Anderen vor mir schützen. Damit niemand sieht, wenn ich weine. Mir kann sowieso keiner wirklich helfen!
Hinter der Fassade kocht und brodelt es. Entsetzen, Enttäuschung, Angst, Trauer, Wut, Sehnsucht drohen sich zu entladen. Mühsam zurückgehalten. Ignoriert, nicht nur von aussen. Nicht realisiert, auch von innen. Manche fügen sich einfach, nehmen es als Schicksal hin, vergraben, vergessen, fertig. Die Fassade wird in blindem Aktionismus ständig repariert. Auch das lenkt ab.
Doch da sind die Gedanken, die man auf Papier verbannt hat (oder hat man sie aufgeschrieben, damit man sie nicht vergisst?). Sie springen mich an. Abends, vor dem Einschlafen. Morgens, nach dem Aufwachen. Sie machen hilflos, machtlos, müde, wütend, agressiv.
Für die Anderen? Es gibt immer Menschen, die wollen helfen, es auch können. Sie verstehen, weil sie vielleicht ähnliches erlebt haben. Oder weil es wirkliche Freunde sind. Für sie ist diese Fassade ein Hinderniss.
Für mich? Ich muss zumindest ein kleines Türchen in diese Fassade einbauen. Den Schlüssel dazu kann ich rausgeben, wem auch immer ich vertraue. Sonst kann mir ja keiner helfen. Eine Explosion der Gefühle könnte fatale Folgen haben.
Alles Liebe
Helmut
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