Einzelnen Beitrag anzeigen
  #894  
Alt 03.10.2009, 23:09
Briele Briele ist offline
Registrierter Benutzer
 
Registriert seit: 15.08.2005
Beiträge: 192
Standard AW: Nicht nichts ohne dich, aber nicht dasselbe.......

Liebe Mama,

zehn Jahre her ist es in wenigen Stunden, daß Du tot bist, mein Herz klopft schneller während ich das schreibe, warum eigentlich? Dreitausendsechshundertfünfzig mal aufgewacht, schlafen gegangen mit dem Wissen Dich nicht hören, sehen, spüren, sprechen zu können und immer die Sehnsucht danach zu haben.

Es geht mir ganz gut, Mama, ich hab mich arrangiert in dem Leben ohne Dich. Es wurde langsam leichter, so Schritt für Schritt, oft drei vor und zwei zurück. Und irgendwann habe ich dann kapiert, daß meine Sehnsucht für immer bleiben wird, nach Dir und Papa, dem früheren Leben mit Euch, und daß das gut so ist weil es wie ein Bindemittel wirkt, auf diese Art alles in Schwingung bleibt, die Verbindung nicht eintrocknet. ….. nicht nichts ohne Dich ….. aber…..

Nun sind fast alle Verwandten und Menschen aus Deiner Generation tot und die noch leben, denen wünscht man fast, daß sie bald sterben können.

Etliche Jahre habe ich neidisch und eifersüchtig nachgerechnet wieviele Jahre andere länger leben durften als Du und jetzt fühle ich oft so etwas wie Dankbarkeit, daß alles so war wie es war. Eine Zeitlang war ich hinter älteren Damen her, wollte mütterliche Zuneigung, wollte töchterlich sein, aber das habe ich aufgegeben. Das geht nicht, ist nicht ersetzbar, wiederholbar. Ich bin für immer Deine Tochter und Du meine Mama.

Nach wie vor träume ich viel von Dir, das macht mich glücklich. Ich sollte die Träume immer aufschreiben, unlängst habe ich in dem Heft nachgelesen und bemerkt, daß ich einige schon vergessen hatte. Aber ein paar sind immer präsent, vielleicht weil ich sie anderen erzählt habe.

Vor ein paar Tagen träumte mir, daß ich in einem großen Raum war mit mir bekannten, aber auch unbekannten Menschen. In der Mitte des Raumes war ein Stützpfeiler und an den gelehnt standest plötzlich Du. Ich war etwas entfernt, wir sahen einander lächelnd an, ich wußte Du bist tot, nur für mich sichtbar und daß Du das auch weißt.
Dann dachte ich mir, ich muß Dir jetzt aber unbedingt zeigen, daß ich Dich wahrnehme, es egal ist, was die anderen denken und ich bin hin und habe den Stützpfeiler umarmt.

Manchmal meine ich Dich neben mir zu spüren, fühle mich von Dir umfangen, es sind oft nur Sekunden, es kann in einem Bus sein, beim Kochen. Dann halte ich inne und wende mich Dir ganz zu.

Aber Mama, es bekümmert mich, daß ich nun, je mehr Zeit vergeht, wieder weniger daran glauben kann, daß es vielleicht etwas nach dem Tod gibt. Ich wünsche es mir, ich wünsche es mir sehr und ich will so leben und mich verhalten als sei es der Fall. Aber ich halte es für unwahrscheinlich.

Es hat sich einiges geändert, nicht mit einem Schlag, ich kann es an keinem Geschehen festmachen. Ich hatte z.B. ein „Trauerbüchlein“ angelegt, Sprüche, Gedanken, Texte, Geschichten hineingeschrieben die mich ansprachen, mir gefielen. Wenn ich jetzt darin lese finde ich höchstens noch ein Drittel gut, den Rest abgedroschen, verkitscht, nicht anrührend sondern rührselig.

Nicht mit Dir meine Trauer, meinen Verlust, meine Sehnsucht besprechen zu können, die ganzen Gedanken dazu, das kann ich nach wie vor kaum fassen.

Ich hab noch immer schrecklich viele Sachen von Dir, ich behalte sie weiter, aber es ist nicht mehr so, daß ich mein Andenken an Dich an Dingen festmachen muß, ich brauche diese Krücke eigentlich nicht mehr. Wichtig sind mir Deine Briefe in denen ich immer wieder ein bißchen lese und es ist schön den Rolladen des Schreibtisches hochzuziehen und in einem Fach Deine harmonisch runde Füllfederschrift zu sehen.

Würde mein Haus brennen, ich würde als erstes den Karton mit den Fotos retten, an denen hänge ich.

Auch nach zehn Jahren zünde ich an jedem Tag eine Kerze für Dich und Papa an, und – jetzt würden wir alle ein bißchen lachen – ja, manchmal bin ich selbst ein wenig gerührt über meine töchterliche Treue!

Ich bin froh daß ich Menschen habe mit denen ich noch immer über Dich sprechen kann, die mir nicht mit Ungeduld und Verständnislosigkeit kommen. Das ist nicht selbstverständlich und oft wartet man in der falschen Ecke auf Zuwendung. Ich nehme sie wo ich sie bekomme.

Wahrscheinlich sollte ich hier besser schweigen. Ich weiß ja, die meisten Mütter die im Forum von ihren Töchtern beweint werden sind in meinem Alter. Es ist auch nicht gerade tröstlich für andere zu lesen, daß es einem zehn Jahre später noch immer herum treibt.

Ich schreibe hier weil ich möchte, daß vielleicht ein paar Leute heute über Dich lesen, wissen, daß es Dich gegeben hat. Es ist mein uralter thread, ich mußte lange suchen und habe dann darin gelesen. Es hat mir damals unwahrscheinlich geholfen zu schreiben, mich auszutauschen. Für eine gewisse Zeit waren hier Menschen ganz intensiv in meinem Leben. Es war wohl hier die Geburtsstätte des Trauertiers, das seither unendlich viele Kinder bekommen hat. Ich hätte es damals vielleicht abmurksen sollen.

Du hast Dich immer für die Menschen in meinem Leben interessiert, Dich mit mir gefreut und Du warst mit mir traurig wenn etwas in Brüche ging. Bis jetzt habe ich keinen Menschen aus dem Forum persönlich kennen gelernt, aber es gibt nun schon im sechsten Jahr intensiven Austausch, ist das nicht schön? Es hat auch Enttäuschungen gegeben, aber so ist das halt im Leben, das gehört dazu. Und vielleicht war ich für andere auch eine Enttäuschung.

Den heutigen Tag wollte ich ganz anders verbringen als er nun war, aber ich hatte keine Wahl. Ich wollte mich nur mit Dir beschäftigen, mit meinen Erinnerungen. Photos ansehen, Deine Musik hören, auf der Couch liegen und in meinem Kopf jede Einzelheit Deiner äußeren Erscheinung abrufen, am Abend meine Freundinnen zu einem Mama-Gedenkessen einladen, sie sprechen noch immer oft von Dir. Vor allem wollte ich versuchen Dir hier in aller Ruhe einen wirklich schönen Brief schreiben. Nun ist er wie er ist. Aber vielleicht ist es auch gut und richtig, daß mich gerade heute das Leben so richtig im Griff hatte, ich mehr beschäftigt mit Arbeit war also sonst. Ich war nicht abgelenkt, ich habe trotzdem immer an Dich gedacht, auf die Uhr gesehen, mich erinnert was an diesem Tag, um diese Zeit vor 10 Jahren war und mir zwischendurch gesagt, weder Du noch ich müssen das noch einmal durchleben. Irgendwie war dieser Tag exemplarisch für die Realität: ich lebe, das Leben hat mich, meine Liebe, Gefühle, meine Gedanken sind bei Dir, liebste Mama, was immer auch ist.

Manchmal denke ich wie es wäre, kämst Du bei der Tür herein. Das denke ich jetzt immerhin seit 10 Jahren und die Vorstellung meiner Reaktion ist immer dieselbe: ich würde vor Glück und Erleichterung sterben. Gerne.

Deine Tochter

Geändert von Briele (03.10.2009 um 23:33 Uhr)