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Alt 15.02.2004, 23:09
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Standard seit ca. zwei jahren ausnahmezustand

Hallo alle in diesem Thread - Sterntalerchen etc.

Im Prinzip sollte dieser Thread nicht nur „Ausnahmezustand“ heissen, sondern „Ausnahmezustand mit schlimm(st)en Gedanken“, denn der Ausnahmezustand führt fast automatisch zu paradoxen, oft nicht gemeinten Gedanken die aus einer Notsituation, der und der Hilflosigkeit und Ohnmachtloskeit beider Seiten (Betroffene und Angehörige) entstehen. Man schämt sich die Gedanken zu haben und trotzdem kann man sie kaum loswerden. Diese Gedanken lösen einerseits Erleichterung und aber auch höllen Schuldgefühle aus.

Als vor 1,5 Jahren bei meinem Mann die Diagnose Lungenkrebs (IV Stadium) gestellt wurde, dachte ich rel. schnell darüber nach, dass ich es kein zweites mal durchstehen könnte, also lieber jetzt mit Schrecken alles beenden als noch einmal so lange quälend zu leiden als Angehörige und Betroffener. Heute muss ich sagen, es war eine Höllenzeit – einmal mehr, und doch durften wir so viel Positives erleben was uns, wenn die Krebserkrankung nicht gewesen wäre, wahrscheinlich entgangen wäre. Vor allem unsere gegenseitige Liebe ist noch intensiver geworden, und das lege ich mir jetzt schon als Trost bereit für wenn der Tag X kommt, und ich weiss er wird kommen, ich weiss nur nicht wann und wie. Also das kann in 10 Tagen sein oder in 25 Jahren, wobei ich auch weiss, dass 25 Jahre utopisch sind.

Und heute sehe ich es eher so, dass ich das nicht hätte missen wollen. Wir haben auch ganz spezielle Menschen kennen gelernt, aber auch schon wieder verloren, gel Känguruh!!!

Wir haben gelernt mit diesem Ausnahmezustand zu leben, erst recht da unser Leben wirklich seit 1,5 nur aus täglichem Klinikbesuch, monatelangem Klinikaufenthalt bestimmt wird. Eine Therapie jagt die andere und ein Termin den anderen.

Ich kann alle Meinungen, Gedanken, Ängste und (Selbst-)Zweifel bestens nach vollziehen und verstehen, da ich es seit 1972 mit ein paar Jahren Unterbruch tagtäglich das erlebe, ja erleben muss und immer noch mitten drin bin, ohne Aussicht auf einen Ausbruch aus diesem Ausnahmezustand.

Es gibt kein entrinnen, es verfolgt einem Tag und Nacht bis in den Schlaf hinein, es gibt Nächte da träumt man sogar davon. Aber wir leben heute damit als Teil unseres Lebens, wir haben gelernt, dass es nicht mehr im Vordergrund sein darf, ansonsten wir noch zu Lebzeiten untergehen würden. Wir haben diese Situation „trotzdem weiter zu leben“ als „gesunder Egoismus“ betitelt, denn er ist es der uns das „Überleben in der Ausnahmesituation“ überhaupt ermöglicht.

Ich musste lernen, dass es mir zu viel Zeit und Energie kostete mit dem Schicksal zu hadern. Ich musste lernen dass der Tod für mich und meine Familie deutlich näher ist als bei anderen „Gesunden“! Und dass ich mich immer wieder mit dem Tod auseinander setzen muss, dazu hat mir sicher geholfen, dass ich darüber schreibe und es raus lasse, weniger hat mir geholfen, dass meine Stiefmutter mit mir bis heute nicht über den Tod meines Vaters sprechen will oder gesprochen hat. Gerade das macht mir am meisten zu schaffen, denn es ist noch so vieles offen, ich habe so viele Fragen. Ich habe sogar Angst, dass sie sterben könnte ohne je darüber gesprochen zu haben.

Ich bin schon 2x, nein 4x im „Ausnahmezustand“ jeweils als Angehörige einer krebserkrankten Person (als Tochter und als Partnerin Lungenkrebs erkrankter Personen, als Mutter eines Sohnes der eine tödlich verlaufende Erkrankung (Cystische Fibrose - Mukoviszidose) hat und als selber Betroffene (u.a. MS).

Mein Vater hatte Lungenkrebs und starb am 16.2.1972. Ich hatte keine Chance zu begreifen was los war, auch ich war erst 11 als er starb und 10 als die Diagnose gestellt wurde. Wir mussten bei jedem Besuch meinem Dad sagen, dass er etwas besser aussah als beim letzten Besuch. Sogar als Kind konnten wir nur allzu deutlich sehen, dass dies nie stimmen kann, denn es ging ihm wirklich immer schlechter. Auffällig war ja auch, dass an dieser letzten weihnachten meine Grosseltern aus Österreich anreisten (ich bin Österreicherin!!!, wohne heute in der Schweiz und wohnte damals in England - habt ihr das Verstanden, nein also ich hab auch noch einen Deutschen geheiratet und meine Kinder sind Doppelbürger ups!!!!). Die Angst und das Unwissen trieb uns Kinde in den Wahnsinn. Deshalb spannten meine beiden Brüder und ich zusammen und stellten meine Stiefmutter zur Rede, das war am 28.1.1972. An diesem Abend sagte sie uns das erste mal und letzte mal, dass er Lungenkrebs hatte und es ihm in der Tat nicht gut ging. Nach diesem Gespräch ging ich zu meiner damaligen besten Freundin Dinah um mich auszuheulen und sprach sehr lange mit ihren Eltern. Keine 2,5 Wochen später starb er. Wir Kinder waren nicht bei ihm, wir konnten nicht Abschied nehmen von ihm als er noch lebte, als er starb oder auch als er Tod war. Wir durften nicht einmal an die Beerdigung und ich erinnere mich nur, dass im Anschluss zur Beerdigung unser haus (ein sehr, sehr grosses) voller „Trauernden“ war die lachten, tranken und mir schien es wie jubelten. Ich konnte das nicht verstehen und es machte meinen Ausnahmezustand der ja zwar schon 1½ andauerte aber erst seit 2,5 Wochen einen Namen hatte noch unerträglicher. Ich war wütend auf ihn, dass er mich in diesem Ausnahmezustand zurück liess, erst recht weil meine leibliche Mam in der Schweiz war, also weit, weit weg. Als er starb, wollte ich auch sterben, um einfach Ruhe von diesem Ausnahmezustand und grausamen Schmerz zu haben und ihn in meiner Nähe zu wissen. Ich starb nicht und meine Liebe zu ihm auch nicht.

Jahre lang kämpfte ich mit diesem Ausnahmezustand der durch die Tatsache des Älterwerdens nicht gelindert wurde aber ich damit besser umgehen konnte. Trotzdem als ich vor 1,5 Jahren, knapp vor der Krebsdiagnose erfuhr, dass mein Dad nicht beerdigt wurde, sondern dass seine Asche auf See verstreut wurde, war ich zu tiefst verletzt es eben nie erfahren zu haben und dann als es endlich raus kam, war es die falsche Person die es mir sagte.

Als 1984 unser Sohn geboren wurde (unser erster Sohn war bereits seit Geburt chronisch krank und hatte gewisse Behinderungen) und wir sahen, dass es auch ihm nicht gut geht, wir auch hier keinen Namen hatten – also es wieder gegen ein Mr. Nobody anzukämpfen galt, dachte ich nein es kann doch nicht wahr sein. Aber wir mussten die Tage so nehmen wie sie waren. Aus der Talfahrt wurde eine grosser Bergfahrt, denn der Lebenswille, den dieser kleine Knirps an den tag legte war einmalig. Er zeigte uns, dass er nicht ein CF-ler ist, sondern einfach ein 2,5; 3; 4;5 oder 6jähriger und noch älterer Bub ist. Aus der uns damals genannten Lebenserwartung von 8 Jahren sind heute fast 20 geworden und es geht ihm eigentlich gut. Er lacht, macht eine Ausbildung, hat eine liebe Freundin und geht „abtanzen!!“ – wisst ihr was, er ist ein ganz normaler junger Mann und steht mit beiden Beinen auf festem Boden. Auch unser ältere Sohn hat uns in seiner Situation das gleiche vorgelebt, und ich glaube genau das Vorleben tut gut, denn das ist der Gegenpol des Ausnahmezustandes. Sie haben uns gezeigt, dass trotz dem Ausnahmezustand und ständigen Angst beide Söhne zu verlieren im Hintergrund sie noch hier sind und ein Anrecht auf ein normales FAMIILIENLEBEN haben. Und sie haben bei Gott wirklich recht damit. Aus diesem Grund konnten die vielen Rückschläge im gesundheitlichen Bereich von uns allen viel gelassener entgegen gehen und sehen. Was ein Kind nicht alles ausmacht. Gerade die strotzende Kraft hat uns soviel geholfen als nun die Diagnosen von mir und meinem Mann gestellt wurden. Wir sagen immer wieder, wenn man unsere gesunden (Körper-)Teile zusammenlegen könnte würde es noch für einen ganzen Gesunden reichen!!!!!! Statt dessen sind es nun 2 Lahme die sich gegenseitig im Alltag stützen. Und doch resp. noch schaffen wir es ohne Hilfe Dritter!

Die Berg- und Talfahrten gingen weiter und wir fanden heraus wenn wir als solche identifizieren konnten, waren wir besser in der Lage uns damit auseinander zusetzen und uns von den schlechten, also den Talfahrtstagen zu lösen, distanzieren oder sie einfach anzugehen. Sie waren nicht mehr unser Feind, durch das konnten wir viel Kraft sparen.

Als beim älteren Sohn mit 16 Jahren eine missbildete Niere und dann noch nur eine festgestellt wurde, stand ich vor dem Ultraschallgerät und einer Horde von Ärzte und begann mit unserem Sohn gemeinsam einfach Lauthals zu lachen. Das hättet ihr als Mäuschen sehen sollen. Ich, als Mutter und der Betroffene, stehe resp. liegt da und lachen als uns mitgeteilt wird, dass mein Sohn nur eine Niere hat und die ist noch missbildet und wir wenn alles schief geht mit einer Nierentransplantation rechnen müssen!!!! Macht mal einfach die Augen zu und stellt euch mal das Bild vor. Zum schreien gel!!!! Und wisst ihr worüber ich / wir eigentlich gelacht haben ..... das der Ausnahmezustand gar nicht schlimmer werden kann als er schon ist! Und das, so ironisch das klingen mag, war eine Erleichterung. Wir lachten auch darüber, dass uns die Ärzte eine Horrorszene verkaufen wollten und wir aber realisierten, das unser Sohn bereits seit 16 Jahren ja mit dieser Niere hervorragend leben konnte ohne jegliche Probleme.

Ja ich wünsche mir zeitweise, dass der Ausnahmezustand aufhört, dass es vielleicht erst dann aufhört wenn mein Mann und ich nicht mehr da wären. Und doch, wir hängen am Leben und geniessen die gemeinsame Zeit. Es ist nicht eine Sehnsucht nach dem Aufhören des Ausnahmezustandes, sondern nach Normalität, etwas was wir schon lange nicht mehr kennen. Zeitgleich auch ein Aufhören des Leidens, der Schmerzen, der Ohnmacht und Hilflosigkeit und zwar von beiden Seiten, also die des direkt Betroffenen und die der Angehörigen. Es sind die gleichen Worte aber für jede Seite haben sie eine etwas andere Bedeutung.

Also ihr seht, auch wir hatten viele Zweifel, oft die gleichen Gedanken, dabei spielt es keine Rolle ob der Feind krebs heisst, CF oder MS!!! Eine ist aber klar, dass weitere Faktoren diesen Zustand zusätzlich beeinflussen und verschärfen, so zum Beispiel, dass man plötzlich nicht mehr in der Lage ist zu arbeiten, aber gerne möchte. Man muss nicht nur eine neue Tagesstruktur und Lebensziele (was das Arbeiten eben auch ist) finden sondern es gilt auch damit fertig zu werden, dass man in der Gesellschaft eine ganz andere Rolle einnimmt, einnehmen muss oder eingenommen hat. Als Kranke wird man einerseits beneidet „ja du kannst ja froh sein nicht arbeiten zu müssen, du kann ausschlafen etc“ und andererseits wird man an den Rand der Gesellschaft gedrängt, denn die alltäglichen Einschränkungen und wie schlecht es dir geht ist nicht immer auf den ersten Blick zu sehen. Dann wird man wieder geschont, aus dem Vereinsleben ausgeschlossen, nicht mehr informiert über etwaige Aktivitäten, weil die „ANDEREN“ davon ausgehen das kannst du ja eh nicht machen. Also es werden dir die, deine Entscheidungen dir abgenommen. Es ist wie wenn man bei der Anmeldung für Sozialhilfe, oder für die Invalidenrente das Gehirn vor der Türe dieser Behörden abgeben muss. Aber es ist vielleicht gerade das was noch bestens funktioniert. Das heisst eigentlich nichts anderes als dass man in den Ausnahmenzustand gedrängt wird. Und das wollen wir ja alle nicht oder!? Ein Beispiel dafür ist, dass ich nein wir sehr gerne arbeiten möchten, auf meinem Beruf als Krankenschwester oder mein Mann als Marketingplaner (Konzentrationsprobleme und die Probleme der Lähmungen) aber nicht mehr können. Diese Tatsachen bedeuten aber auch, dass wir zeitgleich für nichts mehr tauglich sind, nur weil ich an einem Gehwagen, wie ein alte Frau, laufe (ich bin erst 43!) und mein Mann Krebs hat. Wir fühlen uns von der Gesellschaft in den beruflichen Ausnahmezustand gedrängt obwohl wir uns noch nicht oder nicht mehr so extrem krank fühlen wie auch dafür aber eingeschränkt!!!!

Also ihr seht der Ausnahmezustand hat keine zeitliche Begrenzung, keine Alterslimitierung und keine gesellschaftliche Stellung, sondern ist allgegenwärtig und vielschichtig wie ein Regenbogen bei den man die Vielfalt der einzelnen Farben gar nicht mehr sehen kann. Deshalb ist jeder von uns in einem Ausnahmezustand.

Uch, das war jetzt viel, ich hoffe ihr versteht nach dem ganzen Gerede was ich sagen wollte?

Bis bald liebste Grüsse an alle und einen guten Wochenbeginn

Eure Liz und euer Willy
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