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Alt 01.01.2011, 16:40
Andorra97 Andorra97 ist offline
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Standard AW: Wahrheit oder Lüge

Liebe Charlott,
Deine Reaktionen sind ganz normal und ich kann in jedem Deiner Worte meine eigenen, wirren Gefühle zu Beginn des Lebens mit der schlimmen Diagnose wiederfinden.

Es wird auch einfach seine Zeit brauchen, bis es Dir besser geht, denn ein Leben mit dieser ständigen Ungewissheit ist wirklich zu Anfang sehr schwer. Manchmal wünscht man sich sogar insgeheim es würde schneller gehen, nur damit endlich dieser Schwebezustand und diese ungewisse Zukunft vorbei ist. Für mich war das unglaublich schwer, ich war ein Mensch, der immer geplant hat, der nicht einfach so in den Tag hinein leben konnte von einem Moment auf den anderen.

Meinem Mann fiel das viel leichter, er machte sich auch vor der Krankheit nie Gedanken um die Zukunft. Selbst einfache Entscheidungen wie "wo fahren wir dieses Jahr in Urlaub" hasste er wie die Pest, weil das ja noch soooo lange hin war, während ich schon Monate vorher gerne Pläne schmiedete.

Ich war also diejenige, die sich komplett umstellen musste und das war sehr, sehr schwer. Hinzu kam dieser Gedanke: "Ich habe ja nichts, ich bin ja gesund. Also muss ich stark sein. Ich muss hier den Überblick behalten, ich muss alles entscheiden, alles schaffen und darf mich nicht hängen lassen."

Mir fiel das gar nicht so auf, dass ich so dachte. Erst, als ich in eine Mutter-Kind Kur fuhr und dort in einer Gesprächsrunde den Satz "Ich darf auch mal schwach sein" sagen sollte und das einfach nicht über die Lippen brachte, sondern statt dessen heulte wie ein Schlosshund. Erst da fiel mir auf, wie ich mich mühsam aufrecht hielt und wie schwach ich in Wirklichkeit war.

Ich hatte auch Probleme mit diesem "ihr müsst diese Zeit genießen". Ich haber das erste Jahr null genossen und empfand diesen Satz immer als Hohn. Wie man eine Zeit genießen sollte, wo man immer wusste, dass das Ende doch sicher kommen würde, das war mir unergründlich!

Aber dann fing auf einmal - ohne dass ich es richtig merkte - auch bei mir die Heilung an. Seltsamerweise später als bei meinem Mann, der sobald seine körperlichen Beschwerden ganz weg waren schon sehr schnell wieder sein seelisches Gleichgewicht gefunden hat. Und auf einmal bin ich wieder morgens aufgewacht und habe nicht direkt daran gedacht, dass mein Mann nicht mehr lange leben wird.

Jetzt habe ich viele Tage, wo ich wenig an die Krankheit denke. Dass ich sie mal einen Tag gar nicht im Sinn habe, ich glaube das ist nicht so. Mein Mann sagt er denkt überhaupt nie daran, außer er hat eine Untersuchung kurz bevor stehen. Entweder ist er der Meister im Verdrängen oder sein Naturell kommt ihm da eben sehr entgegen.

Uns geht es inzwischen wieder gut. Und ich hoffe auch bei euch wird das wieder so. Gib' Dir Zeit und vielleicht suchst Du Dir vor allem Menschen, wo Du Dich richtig ausheulen kannst. Die sind enorm wichtig. Ich weiß, dass ich psychologischen Beistand deutlich nötiger hatte als mein Mann!
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Einen schönen Tag wünsche ich euch!
Nicole

Mein Mann: NHL Diagnose 31.10.2007 / Glioblastom Diagnose 31.10.2008
Zur Zeit geht es uns gut.
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