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Alt 07.08.2007, 12:26
estella estella ist offline
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Standard AW: Verzweifelt, traurig und wütend

Hallo ihr Lieben,

wir sind gestern Abend zurück aus Spanien. Mein Vater bleibt bis zum 16. August in Spanien und freut sich auf meinen Bruder, der am 11 in Estella (so heißt die Stadt, aus der mein Vater stammt) ankommen wird. Es war ein schöner, bunter Urlaub - mein Sohn ist heute ganz durcheinander. Meine Familie hat sich so rührend um ihn gekümmert, kein Wunder, dass er alle vermißt.

Acht Jahre war ich nicht in Estella. Vieles hatte sich geändert. Die Stadt ist sehr gewachsen, die alten Häuser sind weitgehend rennoviert und man spürt, dass das Problem mit den Basken größer geworden ist. Estella liegt mitten in Navarra, einer kleineren Provinz im Norden Spaniens. Da ein Teil des Jacobswegs durch Estella führt, gibt es viele prächtige Kirchen. Ein Fluss fließt durch das Städtchen, dass auf mehreren Hügeln errichtet wurde. Die Gassen sind eng und schattig, die Plätze haben meist einen Brunnen in der Mitte. Der Hauptplatz ist hingegen groß und flächig. Arkaden umsäumen die Plaza. Überall gibt es Cafés und Kneipen und Läden und Restaurants. Donnerstags ist Markt, dann kommen Bauern aus der Region und verkaufen ihre Waren. Mein Vater liebt den Markt, weil er so lebendig ist.

Nordspanier sind wegen ihrer Dicköpfigkeit berühmt, sie sind derb, lachen viel, feiern noch lieber, essen gerne gut und reden viel über das Essen. Die Männer machen alberne Witze, die Frauen belächeln die Männer deswegen. Sie sagen geradeaus das, was sie denken und ihre Art hat immer etwas poltriges. Typisch für die Region ist die "Jota", der Tanz, der auf allen Fiestas getanzt wird. Außerhalb Spaniens kennt man hauptsächlich den Flamenco, aber jede Region des Landes hat einen eigenen Tanz und die "Jota" ist die Tanzform des Nordens. Anders als der Flamenco, der traurig, sehnsuchtsvoll und leidenschaftlich ist, ist die Jota ein durchweg lustiger Tanz. Männer wie Frauen hüpfen umeinander herum, werfen die Beine in die Luft, wirbeln um die eigene Achse, wirbeln um einander und man kann nicht anders als mitwippen. Die Jota zu tanzen ist wegen der vielen Sprünge anstrengend - es ist jedoch eine Freude zuzuschauen. Nicht die Gitarre, sondern ein Blasinstrument, dass irgendwie quäkig klingt ist das Instrument der Jota. Dazu gibt eine Trommel den Takt an. Ich liebe die Jota, weil sie so schwungvoll ist. Leider kann man Musik so schwer beschreiben...

Mein Vater und seine Brüder sind, vielleicht weil sie in ein Internat geschickt wurden, nicht typische Navarra-Männer. Die beiden Schwestern meines Vaters hingegen, blieben in Estella und wurden Schneiderinnen. Alicia, meine ältere Tante (jetzt 76) bekam vier Kinder mit einem herzensguten, aber sturen "Estelleso" namens Florentino. Meine jüngere Tante Florinda, heiratete einen Basken. Leider hat das die Familie entzweit: viele Basken beanspruchen die politische Unabhängigkeit und unterstützen deswegen die Terrorgruppe ETA. Meine beiden Tanten, die jeweiligen Kinder und Enkel reden kaum miteinander. Darunter leidet vorallem mein Vater. Selbst jetzt, da er krank ist, haben wir es nicht geschafft die ganze Famile an einen Tisch zu bringen. Wir aßen mal im Haus einer Tante, mal im Haus der anderen. Die Onkel sind beide uneingeschränkt auf Seiten der Anti-Basken, was auch nicht wirklich zur Verständigung beiträgt...

Abgesehen davon haben wir den Aufenthalt sehr genossen. Die Spuren der Chemo sind zweifelsohne spürbar. Mein Vater schläft viel mehr als früher. Wenn er müde wird, fällt sein Gesicht zusammen, er wird bleich und die Augen glänzen nicht. Wenn er sich erholt, sieht er allerdings sehr gut aus. Kräftig, braun, fast jünger als vorher. Er macht ein recht normales Leben: er geht aus, er redet mit seinen Kumpel auf der Straße, er trifft abends seine "Flamme" und ihre Clique. Zu den Eigenheiten Navarras gehört, dass man von Jugend an in einer Clique ist. Die meisten heiraten untereinander, die Kinder sind dann ebenfalls miteinander befreundet. Man geht am Wochenende mit der Clique aus und feiert die Fiestas in der Clique - bis ins hohe Alter bleibt das so. Die Clique der "Flamme" meines Vaters besteht mittelerweile nur aus Frauen (sie sind alle älter und verwitwet). Mittendrin: mein Vater. In T-Shirt und Jeans. Jeden Abend sitzt er in einem Café der Plaza, während die Stadt an ihnen vorbei zieht. Um elf Uhr abends, also recht früh für spanische Verhältnisse, geht mein Vater zu meiner Tante Alicia, die mittlerweile ebenfalls verwitwet ist und bei der wir alle gewohnt haben.
Nordspanier reden anders als alle anderen Spanier NIE über Krankheiten und nur ungerne über Negatives. Man berichtet einander nur Gutes. Das führte dazu, dass ALLE so taten als ob sich mein Vater lediglich von einen Leistenbruch erholen müsste. Anfangs nervte mich diese Haltung, später jedoch merkte ich, dass es meinem Vater gut tut, mal nicht an diesen blöden Krebs denken. Er kann so ganz der Alte sein - er wird nicht nur auf Chemo, Krebs, Metastasen und dergleichen reduziert. Die Beschäftigung damit kommt noch früh genug. Irgendwann einmal konnte auch ich "Urlaub" von der Krankheit machen. Ich habe fast vergessen, dass mein Vater SPK hat. Das tat wirklich gut!!! Seit Ende April gibt es eigentlich nur dieses Thema in meinem Kopf. In Estella war ich hauptsächlich Mutter von Pablo, der wie jedes Kind viel Blödsinn macht. Abends konnte ich sogar ausgehen und traf "meine" Clique, die die Clique meiner Cousine Ana ist. Ich hatte viele über zehn Jahre nicht gesehen und es war trotzdem so, als wäre ich lediglich zehn Tage weggewesen. Interessanterweise war alles so wie immer: die mittlerweile ergrauten "Jungs" blödeten die ganze Zeit herum und die "Mädels" taten so, als würden sie sich für ihre Männer schämen. Ich traf auch die Kinder meiner Clique. Die Menschen in Estella heiraten alle sehr jung und kriegen schnell Kinder. Als ich das letzte Mal dort war,waren die Kinder 3,4, 5 Jahre. Jetzt traf ich auf großgewachsene Jungendliche, die oft so aussahen wie die Eltern, als sich meine Clique formte. Es war bewegend, denn zum ersten Mal konnte ich mir vorstellen, was meine Eltern berührt, wenn sie uns mit unseren Kindern sehen. Wir erinnern sie an die Zeit, da sie selber junge Eltern waren.

Meine baskische Tante hat angekündigt, dass sie im September nach Berlin kommen wird. Sie ist die Lieblingsschwester meines Vaters, der ihre politischen Ansichten absurd findet, sie jedoch als Mensch mag. Mein Lehrer-Onkel kommt bereits Ende August.

Der Uraubsbericht ist lang geworden....

Alles Liebe,
e
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