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Alt 31.08.2002, 23:34
Gast
 
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Standard Ein langer Abschied - Teil 2

Liebe Nadine,
Du findest mich hier... Wir sind wieder zurück und ich habe viel an Dich gedacht, Dir einmal in Gedanken sogar geschrieben, als ich nicht schlafen konnte. Die ersten beiden Tage waren sogar richtig gut, aber dann hat mich alles eingeholt. Ich könnte nicht einmal sagen, dass es unerträglich ist, ich fühle mich nur so seltsam fremd in meiner Haut. So, als ob mir jemand ein Stück weggerissen hätte und so unwirklich. Mir spucken die ganze Zeit Banalitäten durch den Kopf, wie z. B. dass mein Vater nie wieder für mich kochen wird. Er hat leidenschaftlich gerne gekocht, obwohl er nie der große Esser war - es hat ihm einfach Freude bereitet, neue Rezepte an uns zu erproben. Persischer Entenreis war seine Spezialität. Er hat es noch ein letztes Mal für uns gekocht, schon damals sagte er selbst, dass es das letzte Mal sei, denn es hat ihn unglaublich viel Kraft und Energie gekostet. Wie auch die Krippe, die er an Weihnachten für uns aufgebaut hat - nicht irgendeine Krippe, es war alles - bis auf die Figuren, die sich schon seit Generationen in Familienbesitz befinden - von ihm nachgebaut, mit so viel Liebe zum Detail und alles nur, um uns eine Freude zu bereiten. Er hat Weihnachten so geliebt und ich habe mich jedes Jahr wie ein kleines Kind darauf gefreut, es bei und mit meinen Eltern zu feiern. Keine Chance - Heilig Abend gehörte meinen Eltern, auch wenn die Schwiegereltern immer wieder einmal leise ihr Recht eingeklagt haben. So leise, als ob sie es geahnt hätten.
Nadine, ich weiß wirklich nicht, warum mich diese Nebensächlichkeiten so sehr beschäftigen, aber Du verstehst - das hat meinen Vater ausgemacht. Ich könnte Dir jetzt stundenlang erzählen, was ihn alles ausgemacht hat, aber ich kann mich beherrschen. Es ist die Erkenntnis, dass nie wieder jemand sich so viel Mühe geben wird, um mich, auch als Erwachsene, in meinem Kindsein abzuholen. Mir ist klar, dass ich jetzt nur noch erwachsen sein muss, mein Vater war der einzige Mensch, der mir diese Momente der Kindlichkeit zugestanden hat. Er hat nie gesagt "Du bist doch schon erwachsen" oder etwas in der Art, er hat mich gelassen und das wird mir erst jetzt bewusst.
Ich träume viel von ihm, fast jede Nacht und so realistisch, dass ich mich jeden Morgen aufs Neue an den Gedanken gewöhnen muss, dass er nicht mehr da ist.
So, nun ist genug, ich bin ja nur noch bei mir und frage gar nicht, wie es Dir geht. Ich habe manchmal Angst, Dich hier eines Tages nicht mehr zu lesen, zu sehr sind meine Gedanken mit Dir verwurzelt. Ich weiß, dass Du nicht mailen magst, es wäre nur so beruhigend, außer dem Forum noch einen Bezugspunkt zu Dir zu haben.
Meine Verlustangst hat zum ersten Mal eine reale Basis und ich gebe es ehrlich zu, sie beinhaltet mittlerweile auch Dich. Das soll Dich nicht erschrecken oder belasten, es ist einfach so.
Ich hatte jahrelang Kontakt per Email mit einer lieben Freundin, der sich während der Krankheitsgeschichte meines Vaters verloren hat. Sie meldet sich einfach nicht mehr. Ich denke oft an sie, kann es nicht erzwingen, dass sie mir schreibt, aber ich wüßte gerne, wie es ihr geht und warum sie nicht mehr schreibt, obwohl ich es mir denken kann. Vier Jahre haben wir uns mehrmals die Woche geschrieben, dann wurde mein Vater krank und es wurde immer weniger. Es ist verdammt schwer, als Außenstehender damit umzugehen, dass diese Krankheit einen Menschen, den man liebt, einfach so hinwegrafft. Aber wir sind nicht außenstehend und so hoffe ich, dass wir unseren Bezugspunkt nicht verlieren.
Auweia, ich bin heute sehr dramatisch unterwegs, sieh es mir nach, es ist einer der schlechteren Tage...
Aber ich schicke Dir trotzdem eine ganz feste Umarmung, denn das funktioniert noch. Ich bin in meinen Gedanken bei Dir.
Bettina
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