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Alt 29.12.2008, 19:43
Tinuviel Tinuviel ist offline
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Standard AW: Die Bilder an denen man hängt und sie loswerden will

Hallo Walter,

meine geliebte Mutter ist Mitte Oktober gestorben. Sie hatte Lungenkrebs und zuletzt Lebermetastasen. Die Diagnose wurde im Herbst 07 gestellt, insofern lässt sich unsere Geschichte ganz sicher nicht mit Deiner vergleichen. Wir hatten wenig Zeit um uns auf den Tod einzustellen. Und da sie uns bis zuletzt in dem Glauben ließ, es würde alles wieder gut werden, waren wir mehr oder weniger unvorbereitet.

Es ist seltsam, immer noch, dass wir es nicht glauben konnten! Die Ärzte rieten ihr Mitte/Ende September ins Hospiz zu gehen, was sie ablehnte. Sie sprachen auch mit uns, aber es war so unwirklich. Wenige Wochen zuvor war sie noch ganz fit, fuhr Auto und erledigte ihren Haushalt selbst. Sie hat uns nicht gesagt, wie groß das Karzinom inzwischen war, wir wussten nur, dass es langsam wachsend wäre und dachten, sie hätte noch Jahre zu leben.

Ende September wurde sie aus der Klinik entlassen, sie konnten nichts mehr für sie tun. Und ab da ging es rasant abwärts, das war unglaublich. Jedesmal wenn ich sie besuchte erschrak ich, wie sehr sie seit meinem letzten Besuch wieder abgebaut hatte. Und dazwischen lagen nur Stunden! Sie war völlig abgemagert als sie starb, nur 10 Tage nach ihrer Entlassung.

Diese letzten 10 Tage werde ich wohl nie vergessen. Sie hatte große Angst, ein Blick in ihre Augen und man wusste es. Und so kannte ich sie gar nicht. Sie war immer die Starke, zeigte nie Schwäche. Es war unmöglich mit ihr darüber zur reden. Unvorstellbar! Aber für mich wurde es dadurch sehr belastend. Zu sehen, was passiert, aber nicht darüber reden zu können. Sie hat alles abgeblockt und so schwiegen wir bis zuletzt.

In den letzten Tagen redete sie ohnehin nicht mehr und schlief fast die ganze Zeit mit offenen Augen und Mund. Ich war mir nie sicher, ob und was sie noch mitbekam. Diesen Anblick werde ich wohl nie vergessen. Es war das erste Mal, dass ich einen Menschen beim Sterben begleitet habe.

Schon in den Wochen vor ihrem Tod bekam ich massive Schlafstörungen, daraus resultierende Konzentrationsprobleme, hatte Alpträume, Schwindel und noch viele andere körperliche Beschwerden. Daran hat sich bis heute nicht viel geändert. Nachts, wenn ich die Augen schließe und schlafen möchte, kommen die Bilder wieder und dann ist es vorbei. Ich stehe auf und lese wieder ihre Patientenakte und bin immer wieder aufs Neue fassungslos, dass sie einfach nicht mehr da ist. Das kann alles nicht wahr sein! Wie im falschen Film komme ich mir vor.

Wir hatten ein enges Verhältnis, manchmal auch schwierig, aber sie war immer für mich da und hat mich unterstützt wo sie konnte. Sie fehlt mir so sehr. Jetzt ist sie tot und meine Kindheit ist entgültig vorbei. Ich habe keine Ahnung, wann mein Leben wieder Bodenhaftung bekommt, aber im Moment scheine ich davon weit entfernt zu sein.

Mia (die das erste Weihnachten ohne Mama überstanden hat!)
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Die meisten Fehler, die wir im Leben begehen,
entstehen daraus, dass wir denken, wo wir
fühlen sollten und fühlen, wo wir denken sollten.
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