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Alt 09.11.2017, 11:29
Sammy84 Sammy84 ist offline
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Standard 7 Monate & 19 Tage

Ich habe schon eine ganze Weile nicht mehr hier gelesen oder geschrieben. Die Zeit seit der Krebsdiagnose meines Vaters verging so unglaublich schnell und dennoch irgendwie qualvoll lang. Am 31. Januar 2017 bekamen er die vorläufige Diagnose Lungenkrebs. Genauere Untersuchungen wurden dann in den nächsten Tagen gemacht, aber die Hirnmetastasen deuteten laut der Ärzte, sehr darauf hin. Dieser Tag war einer der schlimmsten Tage in meinem Leben, wahrscheinlich noch schlimmer als der tatsächliche Todestag. Alles kam so unerwartet. Mein Vater war schon immer Raucher gewesen, aber es hatte nie Anzeichen für Lungenkrebs gegeben. Kein Husten, keinen Auswurf oder ähnliches. Von heut auf morgen war er, mit seinen damals noch 55 Jahren, plötzlich todkrank. Mein sonst so starker Vater, der noch mitten im Berufsleben stand, konnte nun nicht einmal mehr allein auf die Toilette gehen. Von jetzt auf gleich war er völlig unerwartet zum Pflegefall geworden. Das mit anzusehen war furchtbar. Mir vorzustellen, wie es ihm innerlich ergangen sein muss, sich derart hilflos und machtlos zu fühlen, bricht mir das Herz.

In den folgenden 7 Monaten kämpfte er sich durch all die Bestrahlungen und Chemotherapien. Er konnte nicht essen, nicht richtig schlafen und war permanent zugedröhnt von den Medikamenten. Ich wusste, dass wir dieses Jahr Abschied nehmen müssen, ich hatte nur gehofft, dass er wenigstens noch ein oder zwei Monate ohne Schmerz und Leid haben würde, doch dann kam sein Tod ganz plötzlich. Nicht einmal die Ärzte hatten damit gerechnet. Nicht jetzt schon. Zweimal noch hatte er die Immuntherapie bekommen, aber sein Zustand wurde zunehmend schlechter. Jeden Tag in den vergangenen 7 Monaten, hatte er an seinem Schreibtisch gesessen und "gearbeitet". Er sortierte sämtliche Unterlagen, was ihm viel Mühe kostete, weil seine Konzentration wegen der Medikamente kaum vorhanden war. Er war frustriert über Dinge die er nicht mehr tun konnte, über Lebensmittel die nicht mehr so schmecken wollten wie er sie kannte und darüber, dass er weder zur Arbeit gehen noch autofahren konnte. Er kämpfte mit seelischem Kummer, weil er nicht nur dem Tod ins Auge sehen musste, sondern auch mit ansehen musste, wie meine Mutter sich bis zur Erschöpfung um ihn kümmerte und sorgte und weil es medizinische Fahrdienste gibt, die Menschen in solch schweren Lagen noch herablassend und gleichgültig behandeln. Er hatte nicht voraus ahnen können, dass er mit 55 Jahren plötzlich keinen Schritt mehr allein gehen können würde. Dass die Dachgeschosswohnung auf einmal eine unüberwindbare Hürde auf dem Weg zu seinen Therapien sein würde und, dass er darauf angewiesen war, von fremden Menschen die Treppe hinunter und wieder hoch getragen zu werden. Er hatte niemals jemandem zur Last fallen wollen, sich sein Leben lang selbst durchgeschlagen, viel und gerne gearbeitet und sich dabei nie auf andere verlassen. Aber nun war ihm keine andere Wahl geblieben. Die Verzweiflung kam immer wieder zwischendurch, besonders in dem Moment, als der besagte Fahrdienst unsensibel verkündete, dass sie ihn nicht mehr zu seinen Chemotherapien fahren würden, weil die Wohnung zu weit oben liegt und er dafür zu schwer sei. Dabei hatte er bereits an Gewicht verloren. Seine Arme und Beine waren vollkommen kraftlos geworden. Er muss kaum noch Muskelmasse gehabt haben, so schlaff wie die Haut einfach nur noch an seinen Knochen hing. Dennoch, etwas Übergewicht war geblieben, ebenso wie die Wohnung im Dachgeschoss. Hätte er all das geahnt, hätte er sicher vorgesorgt gehabt. Jahre lang habe ich auf meine Eltern eingeredet, ob sie nicht mal umziehen wollen. Aber mein Vater hatte keine Probleme damit, Wasserkisten nach ganz oben zu schleppen. Wie schnell sich so etwas ändern konnte, hatte niemand wissen können. Ich sah mich derweil nach einer anderen Wohnung für meine Eltern um, aber seit einigen Jahren ist es schwer geworden, bezahlbare Wohnungen in akzeptablen Gegenden zu finden. Also kam es nicht mehr zu einem Umzug. Meine Mutter hätte ohnehin nicht gewusst, wie sie auch noch einen Umzug hätte bewältigen sollen. Es war einfach alles zu viel auf einmal..

Trotz allem hat mein Vater versucht, das Beste daraus zu machen, so wie er es sein Leben lang schon immer getan hatte, wenn das Schicksal ihm mal wieder eins ausgewischt hatte. Zwei Tage bevor er das letzte Mal ins Krankenhaus kommen sollte, war ich wie jeden Samstag bei meinen Eltern gewesen und habe ihm zugesehen wie er an seinem Schreibtisch saß und mit sich selbst kämpfte, weil seine Konzentration wieder einmal nicht so wollte wie er. Gemeinsam bauten wir eine neue Deckenlampe zusammen... Das waren Dinge, die wir früher oft gemeinsam getan hatten. An Computern rum basteln, technische Probleme lösen... Es war immer noch unbegreiflich für mich, dass er solche Dinge nicht mehr tun konnte wie früher. Er brauchte ewig, um eine Schraube rein zu drehen und ich glaube, das schlimmste für ihn war, dass er selbst auch mitbekam, wie langsam alles ging.

Am darauffolgenden Montag kam er ins Krankenhaus. Eigentlich hatten wir zunächst vermutet, die Verschlechterung lag an den Nebenwirkungen der Immuntherapie, aber dem war nicht so gewesen. Am Mittwoch rief mich meine Mutter auf der Arbeit an und erklärte mir, dass er sich Sterbeprozess befand. Mir war es schon am Abend davor aufgefallen. Als ich ihn im Krankenhaus besuchte und er nur vor sich hin starrte, kaum etwas sagen konnte und an der Art wie er reagierte, als ich ihm sagte, dass sie ihn hier nur wieder aufpäppeln mussten. Der Ton in seiner Stimme zeigte deutlich, dass er daran nicht mehr glaubte, aber wenigstens hatte ich ihn noch einmal lächeln sehen, als ich ihm sagte, dass seine Enkelin darauf wartete, dass er wieder nach Hause kam.

Als ich ihn am nächsten Tag sah, war er nicht mehr in der Lage zu sprechen oder zu lächeln. Selbst das Schlucken war unmöglich geworden. Es dauerte noch 5 Tage, bis er am 18. September 2017 endlich erlöst wurde. 5 Tage in denen er geistig fast dauerhaft bei Bewusstsein war, aber so gut wie keine Regung mehr von sich geben konnte. Ein Kuss für meine Mutter und ein "Guten Morgen" für die Krankenschwester, dafür hatte er noch all seine letzte Kraft aufgebracht und um dem Pfleger ein tonloses "einfach umbringen" zu entgegnen, was dieser jedoch nicht verstehen konnte, meine Mutter schon. Ich hatte 7 Monate und 19 Tage Zeit, um mich auf diesen Tag vorzubereiten und auf das was folgen würde, die Trauer. Einen Großteil meiner Emotionen habe ich schon das ganze Jahr über durchlebt. Ich denke, es wäre durchaus anders gewesen, wenn er damals gleich von uns gegangen wäre. So hatte ich etwas Zeit Abschied zu nehmen, aber diese Zeit ist niemals genug und nie so, wie man es als "richtig" empfinden würde. Und jetzt lassen mich diese Bilder von seinem Leid nicht mehr los. Im Dezember habe ich Geburtstag und ich erinner mich noch gut daran, dass mein Vater bei meinem letzten Geburtstag Kopfschmerzen hatte. Er hatte öfter Kopfschmerzen gehabt, dabei hatten wir uns nicht viel gedacht, auch wenn meine Mutter immer geschimpft hatte, er solle doch zum Arzt gehen. Ich erinner mich auch daran, dass ich ihm sagte, er solle sich doch hin legen, wenn sein Kopf so stark schmerzt, aber er wollte nicht. Er blieb bei uns und meinem Besuch bis zum Feierabend sitzen, das kann er dieses Jahr nicht mehr tun. Dieses Jahr weiß ich, dass seine Kopfschmerzen damals schon von den Metastasen kamen und wir nicht im Geringsten ahnten, was auf uns zukommen würde..

Obwohl ich bereits eine erwachsene Frau von 32 Jahren bin, beschäftige ich mich erst jetzt auf diese Weise mit dem Thema Tod. Der Tod hat zwar schon früh in meiner Kindheit eine Rolle gespielt, aber da war es um mein eigenes Leben gegangen, welches bedroht gewesen war und als Kind geht man ganz anders mit solchen Dingen um. Der Tod meines Vaters ist der erste Verlust eines nahestehenden Menschen für mich, wobei ich nicht glaube, dass sowas "leichter" wird, je öfter man es erlebt. Wahrscheinlich kann man einfach nie auf so etwas vorbereitet sein und jetzt schwanke ich, Tag für Tag umher, zwischen Traurigkeit, Resignation und der Motivation das Beste aus der Zeit zu machen, die einem selbst noch bleibt und irgendwie weiter zu machen... So wie mein Vater es auch immer getan hat.

An dieser Stelle möchte ich auch einmal erwähnen, wie viel Kraft uns, vor allem meinen Eltern, durch die Ärzte und Schwestern der Palliativmedizin und dem Pflegedienst gegeben wurde. Wir hatten zuvor nie geglaubt, wie hilfreich Menschen in solch wichtigen Berufen sein können. Ich bin sicher, das ist kein leichter Job und leider kommt die politische und gesellschaftliche Anerkennung für soziale Berufe noch immer zu kurz.

Geändert von Sammy84 (09.11.2017 um 11:40 Uhr)
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