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Alt 07.05.2002, 09:07
Gast
 
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Standard Hinterbliebene ...

Hallo lieber Gast,
Worte zu finden für jemanden, der in Trauer ist, ist sehr schwer. Denn jeder trauert auf seine ganz persönliche Weise, und es ist ein Prozess, welcher manchmal länger dauert, manchmal weniger lang.
Ich kann Dir nur von mir selbst erzählen, als meine Mutter damals vor fünfzehn Jahren starb. Sie hatte zwei Jahre mit Leukämie gekämpft, hatte alle Hochs und Tief ihrer Chemotherapien durchgemacht. Sie war damals gerade 59 Jahre alt! Trotz Haarverlust und quälender Sorge war sie in dem Krankenhaus, in welchem sie lag, die aufgestellteste, fröhlichste Patientin! Wenn ihr langweilig war, stopfte sie sich ihr Kopfkissen unter ihr Nachthemd und besuchte die anderen Patienten in ihren Zimmern mit der fröhlichen, witzigen Botschaft: "He, seht mal! Ich bin schwanger!"

Sie war aber keine einfache Frau. Als Tochter hatte ich so ziemliche Mühe mit ihr. Sie hatte mich viel geschlagen, als ich ein Kind war. Es war eine Hass-Liebe, die ich für sie empfand.
Trotzdem hat man ja im Leben nur EINE Mutter, hm? Ich konnte damals auch nicht damit umgehen, zu wissen, dass meine Mutter Krebs hat und vielleicht bald sterben wird. Ich hatte es verdrängt. Aber irgendwann setzte ich mich hin und schrieb ihr einen Brief. Ich wusste, wenn ich IHR endlich verzeihen könnte, dann wäre auch meine Wut auf sie vorbei. Also verzieh ich ihr in dem Brief. Ich war schliesslich auch keine bequeme Tochter. - Genau sieben Tage später starb sie. Sie hatte meinen Brief noch gelesen.
Und ich stellte mir die Frage: Hatte sie bloss darauf gewartet, dass ihr jemand verzieh?
Und meine Wut auf sie war hinterher tatsächlich vorbei!

Sie war damals aus der Kirche ausgetreten. Also gab es keinen üblichen Trauergottesdienst. Trotzdem kam jemand, welcher wie ein Pfarrer aussah, um seine letzten Worte an sie und uns Hinterbliebene zu richten. Es klang so trostlos: "Wir kommen aus dem Nichts, wir gehen ins Nichts!" Damit konnte ich nichts anfangen! Nicht in jenem Moment.
Ich weiss noch, dass eine dicke Fliege durch die Stuhlreihen bei der Trauerzeremonie flog. Die Fliege fing wirklich in der vordersten Reihe an und summte dann von einer Stuhlreihe zur anderen bei allen Leuten vor der Nase vorbei. Ich fragte mich verrückterweise: Ist das jetzt meine Mutter? Verwandelt in eine Fliege, um allen noch schnell Lebewohl zu sagen?
Komisch war schon, dass genau die ähnliche Fliege am nächsten Tag bei mir in der Wohnung herum schwirrte und dann spurlos verschwand! Und meine Schwester, welche damals in Holland lebte, hatte wiederum einen Tag später eine solche dicke Fliege bei sich im Haus ...!

Ich war damals völlig verwirrt. Meine Mutter war der erste Todesfall in meinem Leben, der mir Nahe ging. Ich hatte die verrücktesten Ideen, was nach dem Tode alles geschehen könnte. Ich war gezwungen dazu, mich mit dem Tode auseinander zu setzen, und meine Phantasie gaukelte mir tröstende Ideen vor. Ich fragte nach der Lebenssinn-Frage für meine Mutter, für mich, für alle Menschen überhaupt. Ich fragte nahestehende Menschen, was für SIE denn der Sinn ihres Lebens sei. Aber darauf bekam ich keine einzige tröstende Antwort. - Es hat lange gedauert, bis ich den Tod meiner Mutter akzeptieren konnte. Bis ich überhaupt akzeptieren konnte, dass halt jeder irgendwann sterben muss und dass es ein Teil unseres Lebens ist.
Damals war ich erst 26 Jahre alt.

Liebe Grüsse und eine dicke Umarmung
von Brigitte
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