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Alt 01.08.2007, 12:08
Stefans Stefans ist offline
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Registriert seit: 27.01.2007
Beiträge: 426
Standard AW: Dieses Land ist es nicht :-(

Hallo,

mit einiger Verspätung (wir können nur per UMTS/GPRS ins Netz, und Eplus/Base streikt da mitunter konsequent) ich nochmal. Ich wusste nicht, dass ich so hohe Wellen schlage. Und ich gebe gerne zu, dass ich in meinem Zorn Dinge über einen Kamm geschoren habe, die (so) nicht zusammen gehören. Ich versuche es daher mit einigem Abstand nochmal...

Zunächst: mir ging es beim "Jammern auf hohem Nievau" nicht um den Leistungsumfang der gesetzlichen Kassen (wobei ich manche Bereiche da wirklich unterblichtet finde - die nicht vorhandenen Fahrtkostenzuschüsse gehören dazu). Im Gegenteil. Ich kenne aus 'meinem' Krankheitsbereich viele Leistungen, die weitgehend sinnfrei sind und IMHO ersatzlos gestrichen gehörten.

Wiegesagt, meine Frau und ich sind privilegiert. Eigenheim, Job, Auto, viel Zeit... Und die 1% Zuzahlung vom Bruttoeinkommen sind nur ein paar EUR mehr, als wir für die Gebäudeversicherung hier zaheln müssen. Interessiert mich vom Betrag her wirklich nicht näher. Weswegen ich in meinem Zorn auch die ganzen Quittungen und Antragsformulare einfach entsorgt habe, und wir eben künftig einfach zuzahlen werden, soviel es halt ist. Das mag uns ein paarhundert EUR im Jahr kosten - aber es spart Nerven für ein Vielfaches dieses Betrages.

Mir geht es vielmehr im wesentlichen um das Generv mit der verbundenen Bürokratie. Und die wird mit jeder "Reform" schlimmer. Da kann es das Gesundheitswesen langsam aber sicher an Irrwitz mit dem Steuerrecht aufnehmen. Jedesmal wird von Kostensenkung, Vereinfachung und Entbürokratisierung geredet. Aber - komisch - jedesmal scheitern wirkliche Reformen an Lobbyisten. An den Fachärzten, an den kassenärtlichen Vereinigungen, an den Kliniken, an der Pharmaindustrie. Und jedesmal bleiben als Zahler diejenigen übrig, die keine gute Lobby haben: die Patienten, die Allgemeinmediziner, das Pflegepersonal. Und jedesmal wächst der Wasserkopf der Verwaltung.

Ein paar Beispiele zur Erinnerung ??? Es war die gesundhgeitspolitische Lüge des 'doctor hopping' (das nach Expertenansicht nie in nennenswertem Ausmass existiert hat), die plötzlich den Hausarzt in die 'pole position' versetzen sollte, um Kosten für die Inanspruchnahme von Fachärzten zu senken. Schön. Nur hat man den Allgemeinmedizinern mit der Budgetierung zugleich jegliche Möglichkeiten genommen, Fachärzte da zu ersetzen, wo sie nicht nötig wären. Und läßt sie ausführliche Patientengespräche und Hausbesuche praktisch auf eigene Kosten durchführen. Der Effekt: Zu jedem Quartalsanfang stapeln sich beim Hausarzt Patienten, die nichts wollen als Überweisungen. Und selbst dafür muss ich hier bei meiner Hausärztin eine Stunde im Wartezimmer hocken. Tun kann sie für mich nichts, dafür hat sie kein Budget. Allerdings vergibt sie wegen Überlast Termine nur noch ein Viertljahr im voraus. Und das nicht existente 'doctor hopping', das damit unterbunden werden sollte, wurde erstr durch diese Reform ausgelöst. Ich muss nun nämlich in jedem Quartal zu 2 Ärzten statt zu 1. Das spart sicher ganz viel Geld, Zeit und Arbeitsaufwand...

Praxisgebühr. Eine nach einhelliger Meinung absolut aberwitzige Aktion, bei der von den 10 EUR Gebühr vielleicht 10 oder 50 Cent an Kosteneinsparung überbleiben. Völlig absurd, die Ärzte zu Inkassounternehmen des Staates zu machen. Da werden halt Handkassen geführt, Rechnungen und Quittungen gedruckt, gestempelt und unterschrieben, Bargeld zur Bank getragen, abgerechnet, von der Kasse geprüft, usw... Spareffekt gleich null. Aber endloser Aufwand an Arbeitszeit, Verwaltung und Papier. Gemessen an diesem Blödsinn ist selbst die Agrarpolitik der EU mittlerweile ein Muster an Effekitivität und Sparsamkeit.

Dabei wäre es so einfach. Zuzahlung? Kein Problem. Wenn jeder Versicherte einmal jährlich eine Rechnung von der Kasse bekäme, die die von ihm in Anspruch genommenen Leistungen samt Kosten aufführt (da könnte er dann auch gleich mal gucken, welche Leistungen die Ärzte abgerechnet haben, ohne sie zu erbringen) und die Zuzahlungen, die er leisten muss... dann stünde darunter ein einfacher Hinweis, dass es sich ab xy Bruttolohn pro Jahr lohnen würde, einen Antrag auf Zuzahlungsbefreiung zu stellen. Statt dessen sammeln wir Quittungen, stellen Anträge, machen Kopien von jedem Quark, die Kasse prüft, usw. Warum das nicht einfacher geht? Einfach, weil sich die starken Lobbies seit ewig mit Händen und Füßen gegen jegliche Kostentransparenz wehren. Und seit 20 Jahren jeder Gesundheitsminister systematisch vor diesen Lobbies einknickt.

Was mich daran stört: zum einen basieren die 'Reformen', die da jährlich verbrochen werden, auf Lügen. Wie auf der böswilligen Unterstellung, die Menschen wären gerne krank und würden nur so zum Spass zu x Ärzten parallel laufen. Und auf der grundlegenden Lüge, dass Gesundheit in D immer teurer werde. Das ist nicht wahr. Gemessen am immer steigenden Lesitungsumfang (und für die Alterspyramide in D kann der Beitragszahler nichts) ist unser Gesundheitswesen nicht teuer oder ineffektiver als vor 20 Jahren. Es gibt vielmehr, wie schon jemand ansprach, nur eine massive Finanzierungsschieflage. Von Jahr zu Jahr wird ein immer größerer Anteil des Voplkseinkommens nicht durch lohnabhängige Arbeit, sondern durch Kapitalgewinne erzielt. Die Finanzierung des Gesundheitswesens basiert aber im wesentlichen auf den Zahlungen der Lohnabhängigen. Deshalb müssen die Kassenbeiträge ständig steigen, auch ohne dass die Gesundheitsversorgung teurer wird. Weil es einfach immer weniger Menschen gibt, die für alle bezahlen müssen. Das liesse sich ganz simpel lösen, indem man die Kassenfinanzierung über Steuerquellen erbringt statt über die bisherigen Beiträge.

Zum anderen, dass die damit verbundene Bürokratie inneffektiv, ungerecht und geeignet ist, zu systematischer Untreue und Vorteilsnahme zu animieren. Mit der Praxisgebühr zaheln wir den Wasserkopf der Verwaltung, keine medizinische Behandlung. Und je mehr sich das Aufgabenfeld der Ärzte weg vom Patienten und hin zu Kostenfragen bewegt, desto mehr Kreativität und ARbeitszeit verwenden sie darauf, den Kassen ein Schnippchen zu schlagen. Hat sich noch nicht rumgesprochen, dass nicht nur Kliniken, sondern auch Ärzte problemlos ihr controlling durchführen können? Und dann eben das tun, was ihnen Einkommen bringt, und das unterlassen, wobei sie draufzahlen. Was ich Ärzten und Kliniken gar nicht mal vorwerfen kann. Es muss halt jeder sehen, wie er überlebt. Wieviel dabei von Redlichkeit und Gesetzestreue zu halten ist, zeigen die Vorstrafenregister unser Volksvertreter. In einem Land (das mal wieder...), in dem der Ehrenvorsitzende einer Volkspartei ein rechtskräfitg verurteilter Krimineller ist (weswegen? Natürlich: Steuerhinterziehung), kann man von Patienten und Ärzten kaum die Moral erwarten, die bei den Vertretern der Legislative schon lange ausgestorben ist. Insofern: doch, wir sind auf dem Weg zur Bananrepublik. Und auf diesem Weg schon ziemlich weit vorangeschritten.

Die Zeche zahlen die einfachen, dummen Konsumenten. Nicht wir hier. Schon, wer in der Lage ist, hier ein posting zu lesen oder zu schreiben, ist privilegiert. Er hat das Geld für einen Rechner, für den Internetzugang, und er hat die Zeit und Kompetenz, nach Infos zu recherchieren - sonst wäre er nicht hier. Die, die am Arsch sind, sind die, de nicht hier sind. Weil sie dafür kein Geld, keine Zeit oder kein Wissen haben. Die, die deshalb nicht wissen, welche Leistungen ihnen zustehen; oder die nicht in der Lage sind, den Papierkrieg zu gewinnen, der ihnen abverlangt sind. Mitunter sogar noch solche, die sich schämen, dem Sozialwesen zur Last zu fallen.

Was das 'sich wehren' betrifft: das kann nicht jeder. Denn dazu gehört Geld, Wissen, Zeit und Unterstützung. Natürlich kann ich den Hausarzt wegen Untätigkeit verklagen. Ich bin prozesskostenversichert, ich kann mich im Netz schlau lesen, und ich bin auch noch halbwegs jung, schlau und dynamisch für sowas. Wenn ich das nicht tue, dann deswegen, weil es mir den Stress nicht wert ist. Damit bin ich aber - wie die meisten alle hier - nicht repräsentativ. Mein Schwiegervater, der nach 1 Woche im Krankenhaus wund gelegen ist, weil das Pflegepersonal keine Zeit mehr zum Umlagern hat, der kann das nicht. Und den bemerkt keiner, weil er sich weder beim Arzt, noch bei der Kasse, noch online irgendwo beschwert. Nur: dass man den nicht 'jammern' hört, heisst mitnichten, dass es den in D nicht millionenfach gibt.

Viele Grüße,
Stefan