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Alt 17.03.2002, 22:15
Gast
 
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Standard Die Achterbahn der Trauer

Liebe Linchen,

danke für Deine lieben Worte. Ich kann so gut nachfühlen, wie Du Dich fühlst, nachdem Du Deinen Papa an diese aggressive Teufelskrankheit verloren hast. Gerade Pankreaskarzinome sind ja so gemein, weil sie lange keine Beschwerden verursachen und erst viel zu spät überhaupt erst entdeckt werden. Ein halbes Jahr ist nicht lang genug, um wirklich Abschied nehmen zu können - neun Monate sind es nicht, und ich weiss nicht, ob es überhaupt einen angemessenen Zeitraum gibt mit so einer Diagnose. Ja, ich habe Kübler-Ross gelesen, schon vor Garys Tod. Einfach weil ich wissen wollte, ob ich mich "richtig" verhalte ihm gegenüber. Aber in solchen Situationen gibt es wohl kein "richtig" und kein "falsch". Da zählt, was der Instinkt hergibt. Ich hoffe, Dein Pa hat am Ende nicht allzu sehr leiden müssen. Gary hat am meisten darunter gelitten, immer schwächer und schwächer zu werden und am Ende praktisch gar nichts mehr allein hinzukriegen. Wie Dein Papa war er zeitlebens sehr agil und aktiv.

Mit den Selbstvorwürfen ist das so eine Sache. Rein rational weiss ich, dass sie unbegründet sind, denn ich habe alles getan, um Gary bis zum Schluss zu begleiten. Und selbst wenn ich zwei Tage eher einen Flug bekommen hätte, wäre er womöglich gestorben, während ich irgendwo in der Luft gewesen wäre. Außerdem kommen wir mit "hätte" und "wäre" nicht weiter. Und Du hast recht, Linchen, die gemeinsame Zeit nach der Diagnose war sehr intensiv, und ich bereue keine Minute davon.

Was das "Verschwinden" angeht, so ist das wirklich schwer vorzustellen. Ich bin zwar nicht esoterisch oder sonstwie abergläubisch oder religiös, aber letzte Woche Sonntag hatte ich eine sehr berührende Begegnung - mit einem Engel!

Ich hatte mich mit einem guten Freund in einem bekannten Café zum Frühstück verabredet, um einfach mal zu quatschen. Er war Garys bester Freund und hat außerdem vor etwas über einem Jahr seine Frau an Kehlkopfkrebs verloren.

Als ich da so mit ihm bei Kaffee, Zigaretten und Rühreiern im Café
sass, total in tiefgreifende Gespräche über Leben und Sterben vertieft, bemerkte ich neben meinem Stuhl plötzlich ein kleines blondgelocktes Mädchen, etwa 5 Jahre jung, in der Hand eine ganze Reihe von bunten, geflochtenen Wollkränzen, in die jeweils ein zusammengerolltes Stück Papier eingebunden war. Mit großen blauen Augen hat die kleine mich angeschaut und mir eines dieser Wollgeflechte gegeben. Ich wusste zuerst nicht so ganz, was
ich damit jetzt machen sollte. Wollte sie es mir nur zeigen, oder sollte ich das behalten. Ich hab' sie dann gefragt: "Ist das für mich? Soll ich das behalten?" - "Ja, das ist für dich. Du musst es noch aufmachen." - Ich war doch ziemlich gerührt über diese lieben und unschuldigen blauen Kinderaugen, die mich erwartungsvoll ansahen. "Okay, dann machen wir das jetzt zusammen auf", schlug ich vor, und nahm das zusammengerollte Papier vorsichtig aus
dem niedlichen selbstgeflochtenen Kränzchen. "Du musst das ganz aufmachen", sagte die Kleine mit glänzenden Äuglein. Vorsichtig habe ich das Papier auseinander gefaltet. Es war ein Blatt von einem Diddl-Block, auf dem goldfarbig in ungelenker Kinderschrift stand: "Wer auch immer das hier findet sollte sich freuen. Es ist vom Himmel gefallen. Ein Engel hat es geschickt." Jetzt war ich wirklich tief berührt und musste diese Zeilen immer und immer wieder lesen. Als ich mich umdrehte, war die Kleine wie vom
Erdboden verschwunden. Das Café ist immer brechend voll sonntags um die Zeit. Mit tränenfeuchten Augen habe ich dieses Blatt Papier wortlos meinem Kumpel 'rübergereicht zum Lesen mit den Worten: "Das war ein Engel eben." - Dem kamen auch die Tränen, als er das las: "Gary ist im Himmel angekommen."

Die Engelsbotschaft schmückt jetzt Garys Wand hier. Sie war ein Zeichen. Eine Nachricht von Gary an mich - mitten in einem brechend vollen Szene-Café in Frankfurt. Er wollte mich damit ermuntern, mich nicht im Schmerz einzuigeln, sondern wieder
'rauszugehen in die Welt. Wir beide waren sehr oft sonntags in diesem Café frühstücken. Er hat mir einen kleinen blondgelockten Engel geschickt mit seiner Botschaft.

Natürlich wissen wir nicht, wo unsere Lieben sind, werden es wahrscheinlich nie genau erfahren. Aber so lange sie in unseren Herzen bleiben, sind sie auch nicht einfach "verschwunden".

Ich wünsch' Dir ganz viel Kraft in dieser schweren Zeit und schicke Dir eine herzliche Umarmung.

Marianne
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