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Alt 15.01.2017, 12:40
Lunacat_91 Lunacat_91 ist offline
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Standard AW: Mitte 20 und anders als alle anderen

Eines Tages wirst du für mich Dinge tun, die du hasst. Das bedeutet es, eine Familie zu sein.

Wahre Worte sind das. In Christophs schlechtesten Zeiten war es seine Familie - und ich, aber ich denke nach fast 5 Jahren Beziehung und in so einer Extremsituation konnte man mich quasi zur Familie zählen - die Dinge für ihn tat, die sie hasste. Und die auch er hasste. So sehr, dass es dafür keine Wort gibt. Mehr als abgrundtief. Dazu gehörten Dinge wie die täglichen Kalorienrationen herzurichten und an den Port anzuschließen. Essen ging ja nicht mehr. Und wenn, dann in viel zu geringen Mengen. Man konnte mit ansehen, wie die Chemo ihn auszehrte. Woche für Woche war da weniger. Und wer ihn in gesundem Zustand kannte, hat es eigentlich kaum für möglich gehalten, dass er mal noch dünner sein könnte. Zumindest nicht noch dünner ohne... ja, ohne krank zu sein.

Im März sind es zwei Jahre. Zwei Jahre seitdem ich den Tod meines Freundes miterlebt habe. Das Leid vor diesem Zeitpunkt und das Leid danach sind nicht miteinander vergleichbar. Irgendwann, nach einem monatelangen, aussichtslosen Kampf, der zu einem nicht mehr lebenswerten Leben geführt hat, sehnt man sich ein schnelles Ende fast schon herbei. Harte Worte. Aber wer einmal einen intelligenten, geliebten Menschen in dem Zustand gesehen hat, den eine Unterfunktion sämtlicher Organe bewirkt, der würde sich auch ein möglichst schnelles Ende für den anderen wünschen. Christoph hatte mir, als er noch klar denken konnte, das Versprechen abgenommen, ihn in die Schweiz zu bringen, sobald so ein Zustand eintritt. Er wollte so nicht leben. In seinen letzten Tagen musste ich mich der Frage stellen, ab wann es genug sei. Wann ich ihm nun diesen "Wunsch" erfüllen sollte. Noch ein Tag? Noch zwei? Nächste Woche? Mir wurde diese Entscheidung abgenommen: An dem Tag als er ins Krankenhaus gebracht wurde, starb er. Er wollte dort nicht sein. Und vielleicht wusste er genau, dass diese Entscheidung zu groß für mich war.

Jetzt sitze ich hier. Fast zwei Jahre später. Ich dachte, ich würde diese Panik, selbt krank zu sein, nicht mehr bekommen. In den Wochen und Monaten nach seinem Tod lebte ich in fast ständiger Angst, beobachtete meinen Körper ganz genau, tastete mich selbst ab, nahm Zink ein. Nur um dann im Juni 2016 eine eigene Diagnose zu bekommen... Und mein erster Gedanke war nur: Zum Glück kein Krebs. Mit der Krankheit lebe ich nun und ich dachte: Ok, das ist nun mein Los. Jetzt weiß ich es also. Mit 23 den Freund verlieren, mit 24 selber eine Diagnose kriegen. Aha. Gut. Ich konnte das soweit akzeptieren. Und ich dachte mir, dass ich nun keine Angst mehr haben müsste. Ich kannte ja nun mein "Schicksal". Ich weiß jetzt, welche Krankheit ich habe und brauche mir um weitere keine Sorgen machen. Das ging seit Juni gut. Bis jetzt. Jetzt kommt sie wieder... Die Angst vor Krebs. Seit Tagen spüre ich ein Ziehen im Bauch, taste ab, mache mich verrückt. Wie in den Wochen und Monaten nach Christophs Tod. Ich dachte, ich hätte diese Panik überwunden, die Angst vor dem Krankwerden. Also morgen zum Arzt... Da ich umgezogen bin und hier noch keinen Hausarzt habe, hoffe ich, dass ich auch ohne Termin irgendwo dran komme und auf Verständnis treffe mit meiner Angst. Nichts wäre schlimmer als ohne Ultraschall wieder heim geschickt zu werden. Wie Christoph damals. 7 Monate vor seinem Tod.

Es holt mich alles immer wieder ein. Die Vorstellung, irgendwann einmal wieder ganz losgelöst von diesen schrecklichen Monaten leben zu können, ist eine Illusion.
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Now I can´t believe that it´s been five years
Since we both stood here, looking out at this city
With minds so bold and hearts so clear
(First Aid Kit)

Je mehr du gedacht hast, je mehr du getan hast, desto länger hast du gelebt.
(Immanuel Kant)


Christoph (1992-2015) - Ich vermisse dich

Geändert von Lunacat_91 (15.01.2017 um 12:54 Uhr)
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