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Alt 30.01.2005, 20:07
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Standard Nierenzellkarzinom: Station (m)eines Weges

„Hallo an Alle“ auch von mir,

„Nierenzellkarzinom, Station eines Weges“ ist auch für mich ein Thema.

Seit fast drei Jahren begleitete ich Jürgen als Ehefrau und Krankenschwester auf seinem Weg. Viele Therapiemaßnahmen, viele Befunde (auch unklare Befunde), viele Kontrolluntersuchungen haben diesen Weg gekennzeichnet. Und damit viele Ängste, viele Hoffnungen, viele Schwierigkeiten, viele Meinungen…

Nun haben wir wieder einmal einen solchen Punkt erreicht, wo der Weg sich gabelt. Und wir nicht sofort wussten, welche dieser Weggabelung sollten wir nehmen. Wo sich die Frage gestellt hat, ist der bisherige Weg der richtige gewesen. Wo sich gerade für mich als Krankenschwester aber auch als Ehefrau viele Fragen gestellt haben.

Vielleicht ist für viele die Kombination Krankenschwester – Ehefrau nicht so einfach zu verstehen. Die Krankenschwester in mir hat ein gewisses Maß an Wissen, aber sie ist in ihrer „Doppelfunktion“ als Ehefrau und Krankenschwester nicht nur durch Logik und Wissen geprägt. Als Ehefrau hat sie zudem auch ein hohes Maß an Emotionen, das sie in ihrem Beruf als Krankenschwester TEILWEISE unterdrücken MUSS, um diesen Beruf ausüben zu können.

Ich wusste und weiß, dass diese Emotionen auch sehr stark präsent waren unter Jürgens bisherigen Therapiemaßnahmen.

Mir war z. B. durchaus bekannt, dass man z.B. die Immun-Chemo-Therapie beim metastasierenden Nierenzellkarzinom zumindest am Anfang mit drei engmaschig aufeinander folgenden 8-Wochen-Kursen beginnt, sofern der erste Kurs Erfolge nachweist.

Nach Jürgens erstem 8-Wochen-Kurs lautete ein Teil des Staging-Befundes: „Dabei zeigte sich erfreulicherweise ein deutlicher Rückgang der pulmonalen Metastasen (Lungenmetastasen) sowie ein Stillstand der thorakalen und abdominellen Lymphknoten“.

Ein riesiger Erfolg und ein Grund zum Jubeln, aber definitiv noch nicht das Ende der üblichen Therapie. Normalerweise hätten sich an dieses Ergebnis in kürzest möglicher Zeit zwei weitere 8-Wochen-Kurse der IMT angeschlossen. Entgegen diesem Wissen habe ich mich unter den damaligen Umständen der Meinung des behandelnden Arztes angeschlossen, jetzt auf „Erhaltungstherapie“ umzuschwenken.

War das verkehrt?

Jürgen hatte zu diesem Zeitpunkt innerhalb eines halben Jahres hinter sich:

Eine schwere Herzoperation, die Entfernung der linken Niere einschl. Lymphknoten und Nebenniere (im 3-wöchigen Abstand nach der Herz-OP), die Therapie des Tumors in der rechten Niere mittels Embolisation und Termoablation
und einen 8-Wochen-Kurs IMT mit massivsten Nebenwirkungen. Und zusätzlich schwebte über all diesem bei Jürgen noch über einen langen Zeitraum hinweg tiefste Depression.

Den telefonischen Vorschlag des behandelnden Immunologen jetzt auf „Erhaltungs-Therapie“ umzuschwenken, kommentierte ich als Krankenschwester nur mit einer absolut dezenten, etwas halbherzigen Frage: „Wäre es nicht angebracht, in diesem Stadium, sobald es eben möglich ist, den nächsten 8-Wochen-Kurs hinterher zu schießen?“

Die Ehefrau in mir sah das erleichterte Gesicht von Jürgen, als das Wort „Erhaltungstherapie“ gefallen war, und nicht ein erneuter 8-Wochenkurs.

War meine Entscheidung, jetzt als Ehefrau zu fungieren und NICHT als Krankenschwester, indem ich NICHT versucht habe, Jürgen von der eigentlich erforderlichen Therapiemaßnahme zu überzeugen, RICHTIG ?

An dieser Stelle möchte ich einfügen und betonen, dass ich grundsätzlich NICHT der Meinung bin, dass Angehörige versuchen sollten, den Patienten zu ÜBERZEUGEN, etwas zu tun oder nicht zu tun. Meine Einstellung ist eigentlich grundsätzlich die, dass man als Angehöriger sich bestens informieren sollte und, falls es möglich ist, eine Reihe von Möglichkeiten anbietet, der Patient letztendlich aber SELBST entscheidet, WELCHEN WEG er geht.

Bei Jürgen war das anders. Er war in der damaligen Situation aufgrund seiner psychischen Verfassung in keiner Weise motiviert, sich über die Erkrankung und ihre Therapiemöglichkeiten zu informieren. Ganz zu schweigen davon, dass er für sich selbst eine Entscheidung hätte treffen wollen oder können. Er hat sich in dieser Situation damals komplett auf meinen Rat verlassen und den auch z. T. eingefordert.

Und hier stellt sich die Frage, ob Angehörige nicht häufig zu ungeduldig sind, wenn sie vom Patienten möglichst sofort oder umgehend Entscheidungen etc. erwarten. Ich muss zugeben, dass auch ich nur mit größter Ungeduld erwarten konnte, dass Jürgen sich mit seiner Krankheit „auseinander setzt“.



Im Rahmen unserer „Bestandsaufnahme“ in der vorigen Woche war die Frage für mich ungemein wichtig, ob es richtig war, Jürgen damals NICHT von einem weiteren 8-Wochen-Kurs IMT zu überzeugen. Es kamen Gedanken wie : „Hätte ich das heutige Ergebnis des Stagings positiv verändern können, indem ich Jürgen damals überzeugt hätte, den nächsten 8-Wochen-Kurs IMT unmittelbar anschließend zu machen ? Nachdem es doch damals hieß, „deutlicher Rückgang der Lungenmetastasen“ – hätte ich dann heute vielleicht das Ergebnis „keinerlei Tumor mehr nachweisbar“ ? ………..

H E U T E , nach Sortierung meiner Gedanken, bin ich zu dem Schluss gekommen:



Nein. Unser damaliger Weg war nicht verkehrt.



Jürgen hat in den vergangenen fast drei Jahren g e l e b t . Wir waren unmittelbar nach der ersten Erhaltungstherapie ( im Anschluss an den ersten 8-Wochen-Kurs ) für 8 Wochen in Australien. Etwas, was für Jürgens Psyche ungemein wichtig war. Konnte er doch damals überhaupt nicht fassen, dass er zu diesem Zeitpunkt überhaupt noch LEBTE, ganz zu schweigen davon, dass er in Australien war!

Der Faktor „Lebensqualität“ war gerade während der langanhaltenden tiefen Depression von nahezu einem halben Jahr Grund genug, eine PAUSE in der Therapie einzulegen.

HEUTE ist Jürgens psychische Situation gefestigt und stabilisiert.
Heute weiß er, dass er auch mit der Erkrankung und mit der IMT leben kann.
Heute ist er in der Lage, eigene Entscheidungen zu treffen, nachdem er „Für und Wider“ mit mir besprochen hat.
Heute ist er in der Lage, sich mit seiner Krankheit und deren Therapiemöglichkeiten zu befassen und sich eine EIGENE Meinung zu bilden.
Heute sieht er in die Zukunft.
Heute ist er positiv eingestellt………..




Uns ist die Studie Bay 43-9006 angeboten worden. Wie verlockend war es auch für mich, eventuell eine Therapie zu haben, die nicht mit den von Jürgen so gehassten Spritzen einhergeht und zudem äußerst wenig Nebenwirkungen haben soll!

Tat es MIR doch bei Bekanntgabe der jetzigen Befunde extrem weh, Jürgen mit hoher Wahrscheinlichkeit wieder der nebenwirkungsreichen IMT unterziehen zu müssen! ( An dieser Stelle sollte ich anmerken, dass ich mit Jürgen diese Therapie bislang weitestgehend hier zu Hause allein durchgeführt habe, obwohl die Bedingungen dazu teilweise sehr schwierig waren. )

Auch für Jürgen war es sicher eine Verlockung, die Bay-Studie anzunehmen. Wir haben lange das „Für und Wider“ gegeneinander abgewogen. Ich freue mich darüber, dass Jürgen immer wieder die für ihn negativen Aspekte diskutieren wollte und dann nahezu ALLEINE SEINE Entscheidung gegen die Studie und für die IMT getroffen hat. ( Übrigens war letztendlich Jürgens persönliche Entscheidung gegen die Studie im Wesentlichen davon geprägt, dass er keinen sehr großen „Spielraum“ bei der Erhaltung seiner REST–Einzelniere hat und dass er bei der für ihn bisher erfolgreichen IMT eine rechnerisch höhere Chance hat als in der Studie. Diese Entscheidung soll auf keinen Fall ein „Vorreiter-Beispiel“ für andere sein! Ich hoffe schon darauf, dass BAY 43-9006 die Erwartungen der Forscher und Patienten erfüllt!)

Dies zeigt mir, dass Jürgen heute in der Lage ist, selbständig für sein Leben zu kämpfen. Es zeigt mir, dass er die Erfolge, die wir mit der IMT hatten, erkannt und gesehen hat. ( Das war damals zur Zeit seiner Depression absolut nicht möglich! ) Hatten wir doch neben diesem ersten Befund unter der Therapie einen langen Krankheitsstillstand und zudem den BEWEIS, dass die IMT angeschlagen hatte -schließlich hat ein Lymphknotenpaket im Mediastinum, welches im Sommer 2003 operativ entfernt wurde, pathologisch den Nachweis erbracht: „Starke regressive Veränderungen im Kern (rückläufige Tumorzellen) und viel abgestorbenes (nekrotisches) Tumormaterial.“

Wir wissen beide, dass die nun folgenden drei, möglichst engmaschig hintereinander geschalteten, 8-Wochen-Kurse der IMT sehr schwer werden. Für ihn, aber auch für mich. Aber wir wissen auch, dass wir mit dieser Therapie eine sehr große Chance haben. Die Chance, Jürgens Leben weiterhin zu verlängern. Auch wenn es aller Voraussicht nach KEINE Heilung geben wird. Und ich schließe mich Jürgens Meinung voll an, die er als eine Begründung zur Entscheidung für die IMT anführte: Es ist bewiesen, dass mir die IMT geholfen hat – warum sollte sie jetzt nicht helfen ?




Ich möchte mit diesem Beitrag zeigen, dass ich sehr gut die Situation vielleicht des einen oder anderen Angehörigen nachvollziehen kann, der sich vielleicht die Fragen stellt: “Haben wir den richtigen Weg gewählt? Haben wir vielleicht etwas übersehen? Gibt es vielleicht noch andere Möglichkeiten?“

Und auch denjenigen, die vielleicht einen Misserfolg zu verzeichnen hatten, möchte ich sagen, dass die Frage: „Haben wir etwas verkehrt gemacht?“ natürlich ist. Ich meine, dass es legitim ist, die Frage zu stellen und darüber nachzudenken – aber ohne sich gleich direkt eine Schuld an irgendwas zu geben.

Ich denke, dass es wichtig ist, FÜR den Patienten da zu sein, wenn er vielleicht aus der Situation heraus nicht so gut in der Lage ist, eine eigene Entscheidung zu treffen.

Ich denke, dass es wichtig ist, als Angehöriger, soweit es möglich ist, Informationen zu sammeln und dem Patienten näher zu bringen.

Ich denke, dass es wichtig ist, dem Patienten nur so lange diese Dinge abzunehmen, wie es eventuell aufgrund der psychischen und/oder körperlichen Situation nötig ist. Um ihn aber immer wieder dezent in die Richtung zu lenken, in der er selbst aktiv werden kann.

Und ich denke, dass JEDER sein Bestmögliches hierzu tun wird, ohne dass es irgendwann in einer Schuldfrage endet.



Und eines möchte ich ganz besonders herausstellen:

Das Wichtigste ist es meines Erachtens, für den Patienten als Ansprechpartner und Gesprächspartner in JEDER Situation auf SEINEM Weg DA zu sein.

Manchmal kann vielleicht auch der momentane Zustand des Patienten eine Verschiebung des Therapiebeginns auf einen späteren Zeitpunkt zur Folge haben. Auch ein vom Patienten nicht verbal, sondern durch erkennbare Mimik oder Gestik geäußerter Wunsch, sollte m. E. unbedingt berücksichtigt werden. Selbst dann, wenn Arzt und Angehörige sich einig sind, hier die scheinbar BESTMÖGLICHE Therapiemaßnahme gefunden zu haben, die nach deren Meinung JETZT eingesetzt werden sollte.

Es gibt nicht den „einzig wahren Weg“ – nicht die „einzig beste Therapie“. Niemand kann vorher wissen, ob und welchen Erfolg ein Therapie-VERSUCH bringt. Denn jede Therapiemaßnahme ist letztendlich ein Versuch. Die Entscheidung über Erfolg oder Misserfolg, ob „die Uhr abgelaufen ist oder nicht abgelaufen ist“, trifft letztendlich jemand oder etwas anderer/s.

Und von daher gilt meiner Meinung nach das, was in vielen Lebenssituationen ja auch gilt: „Nach-Karteln“, d.h. „Hätte –wäre –würde“ hilft niemandem, führt höchstens zu Schuldgefühlen. Die UNANGEBRACHT sind. Das Schicksal eines Einzelnen liegt nicht in unserer Hand. Auch wenn wir uns noch so sehr bemühen, manch einem Schicksal ein „Schnippchen“ schlagen zu wollen.

In diesem Sinne wünsche ich uns allen alles erdenklich Gute.

Liebe Grüße,

Ulrike
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