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Alt 23.11.2005, 08:51
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AndreaS AndreaS ist offline
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Standard AW: Mein kleiner Bruder

Lieber Marco,

ich war 5 Jahre alt, als mein damals 10-jähriger Bruder bei einem Verkehrsunfall ums Leben kam. Ein Recht auf Trauer hat mir niemand eingeräumt, wahrscheinlich damals noch viel aus Unwissenheit. "Sie ist ja noch so klein, sie bekommt es ja noch gar nicht mit." Dass das nicht stimmte, merkte offensichtlich niemand. Mein Bruder Michael war meine erste Liebe in meinem Leben, ihn wollte ich heiraten, bei ihm fühlte ich mich geborgen. Auf einmal war er einfach weg. Ich wusste nichts mehr mit mir anzufangen, war einsam und alleine. Ich konnte dieses Gefühl nie richtig einordnen, ich wusste nicht, dass das Trauer war aber ich wusste, dass ich nicht wollte, dass meine Eltern so traurig waren. Also bürdete ich mir noch zusätzlich die Rolle der "guten Tochter" auf, keine Rebellion, immer schön in der Spur laufen, nur keinen Kummer mehr verursachen. Gesprochen habe ich mit niemandem darüber, lange Jahre, viele Jahrzehnte nicht.

Aber ich war ständig auf der Suche. Etwas wichtiges fehlte / fehlt mir bis heute in meinem Leben. Ich sah neidisch auf die Freundinnen, die Brüder hatten. Irgendwie "suchte" ich ihn immer in anderen Männern, die ich symphatisch fand, mit denen ich mich gut unterhalten konnte.

Mit 40, 35! Jahre später brach es endlich aus mir heraus. Zuerst dachte ich, es sei eine Lebenskrise vor dieser magischen Zahl (fühlt sich ja auch nicht wirklich gut an, dass man plötzlich schon so alt ist :-) ) Ich hatte regelrechte Depressionen, konnte kaum noch mein Tageswerk bewältigen. Erst nächtelange Gespräche mit meinem Mann, machten es möglich, dass ich meinen Kummer in Worte fassen konnte.

Soviel zum Thema Zeit heilt alle Wunden. 35 Jahre, die Trauer war noch immer präsent. Aber die Gespräche verhalfen mir zur Linderung. Ich konnte endlich "abschließen", akzeptierte und ließ endlich los. Gerade rechtzeitig, um Platz zu haben für den nächsten Schmerz, den Verlust meines geliebten Mannes.

Die Umwelt versteht es nicht. Mein Gott, es war ja "nur" der Bruder und wie gesagt, erst war ich zu klein und später? Wer hätte verstanden, dass ich nach 35 Jahren immer noch ein Problem damit hatte? Und heute höre ich auch, dass es nach einem Jahr doch langsam nochmal gut sein müsste. "Du musst raus" unter Leute. Du findest bestimmt nochmal einen Mann u.s.w.

@ Wolke. Du hast sicherlich Recht. Ein gewisses Maß an Unwissenheit ist vorhanden. Nur halte ich es für sehr viel verlangt, dass wir Trauernden mit all unserem Schmerz, teilweise auch mit den Existenzängsten, die durch den Verlust entstanden sind, diejenigen sein sollen, die Verständnis haben. Es wäre doch schön, wenn u n s etwas mehr Verständnis entgegengebracht würde. Unsere kranke Seele bräuchte es dringend.

LG
Andrea
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Που να 'σαι τώρα που κρυώνω και φοβάμαι
και δεν επέστρεψες
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