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Alt 20.12.2006, 03:11
Benutzerbild von struwwelpeter
struwwelpeter struwwelpeter ist offline
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Idee AW: ***weihnachtsgeschichten***

Weihnachtstränen

Das war Weihnachten, am Heiligen Abend, in der Bahnhofsgaststätte in Hamm. Die Münsteraner Elli und Fred waren zu Besuch bei der Mutter. Und weil es bis zur Bescherung noch Zeit war, bummelten sie durch die festlich strahlenden Straßen und erfreuten sich an der vorweihnachtlichen Stille. Ihr Ziel war die Bahnhofsgaststätte, wo sie, wie schon Jahre vorher, den dort stehenden, liebevoll geschmückten großen Christbaum bewundern wollten. Weihnachtsmelodien tönten sanft durch die Bahnhofsgaststätte, und der Anblick des schönen Tannenbaumes ließ Elli und Fred so recht in Weihnachtsstimmung kommen.

Am Tisch gegenüber sahen sie eine ältere Frau, die Kreuzworträtsel löste und ein Glas Wein vor sich stehen hatte. Daneben lagen ein Walkman und einige Musik-Kassetten. Die Frau schien glücklich zu sein, wie Elli und Fred es waren, aber irgendwie stimmte die beiden das Alleinsein zur Weihnacht ein bisschen traurig. Die Münsteraner kamen mit ihr ins Gespräch. Sie sei schon Jahre allein und habe gelernt, sich mit eigener Kraft zum Glück zu verhelfen, sagte sie. Sie müsse ganz besonders zur Weihnacht ihrem Glück kräftig unter die Arme greifen. "Na, ja", fügte sie hinzu, "ganz ohne Gottes Hilfe geht es nicht. Aber ich feiere meine Weihnacht und ich hoffe, ohne Wehmut und mitwenig Tränen, denn ganz ohne Tränen habe ich es noch nicht geschafft."

Da kam die Kellnerin an ihren Tisch. "Es ist 14.30 Uhr", sagte sie, und mit den Worten: "Wir schließen um 15 Uhr, darf ich abrechnen", schien sie abrupt die wahrscheinlich mit viel Mühe und Selbstbeherrschung aufgebaute Weihnachtsstimmung der Frau zu zerstören.

Aber das dachten Elli und Fred nur, denn die Frau vom Tisch gegenüber zeigte sich gefasst. "Gleich beginnt meine Weihnacht", sagte sie, nahm den Kopfhörer des Walkmans in die Hand und ... Fred unterbrach sie: "Und was machen Sie nach 15 Uhr? Es ist Weihnachten, Heiligabend?" "Irgendwo werde ich Menschen treffen", erwiderte sie, "vielleicht in der Bahnhofshalle, aber ganz sicher in den Kirchen unserer schönen Stadt." Sie setzte den Kopfhörer auf, und aus dem Walkman klang es leise "Vom Himmel hoch, da komm` ich her..."

Und als die beiden den Christbaum mit seinen strahlenden Kerzen und dann die Frau am Tisch nebenan betrachteten, da sahen sie, wie Tränen über ihre Wangen liefen. "Siehst du, Elli", sagte Fred, "sie hat vorausgesagt, dass ihre Weihnacht nicht ohne Tränen ablaufen würde", und als er Elli anschaute, sah er, dass auch ihr Gesicht voller Tränen war. Auch Fred musste ganz schön die Zähne zusammenbeißen, um nicht auch noch ..., denn aus dem Walkman klang es leise: "Stille Nacht, heilige Nacht". Es war Weihnachten, Heiligabend in der Bahnhofsgaststätte in Hamm.

Und dann geschah etwas, das Elli und Fred wie ein Wunder erschien: Als sie abends in der vollbesetzten Kirche standen, winkte ein Mensch zu ihnen herüber - das war die Frau vom Nachmittag in der Bahnhofsgaststätte, vom Tisch gegenüber. Sie stand nur ein paar Schritte neben den beiden. Und weil Elli gerade betete, ergänzte sie ihre Bitte an den Himmel: "Herr, beschütze diese wundervolle Frau, die, obwohl allein, uns beiden so viel Kraft und Zuversicht schenkt."

Nach dem Gottesdienst trafen sich die drei vor der Kirche wieder. "Ich bin ein bisschen heiser", sagte sie, "und das kommt vom Weihnachtsliedersingen, ich war heute Abend schon in mehreren Kirchen und, wie ich Ihnen schon voraussagte, immer unter Menschen. Es war für mich wieder ein schöner Heilig Abend. Frohe Weihnacht wünsche ich Ihnen."

Sie reichte Elli und Fred die Hand. Die beiden waren bedrückt, aber auch beglückt und schauten die Frau mit Hochachtung an. Lieblich klangen die Weihnachtsglocken durch die stille Nacht, als die Frau von der Bahnhofsgaststätte, vom Tisch nebenan, den Kirchplatz verließ.

Siegfried Walden




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