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Alt 20.09.2002, 22:08
Gast
 
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Standard Frage an evtl. hier mitlesende Patienten

Hallöchen zusammen,
ich bin's, die (krebsbetroffene) krasse Brigitte!
Herrjeh, hier herrschen ja ganz schnelle Missverständnisse! Aber das liegt wohl schon ein bisschen an Deiner Fragestellung, Lillebror, denn hättest Du mit einem einfachen Satz gefragt:
"Was empfinden Krebsbetroffene, wenn sie auf den Seiten der Hinterbliebenen nachlesen?", ... wäre das Ganze vielleicht ein bisschen einfacher gewesen.

Deine Meinung, dass der Tod NICHT zum Leben gehört, hat mich zwar - ehrlich gesagt - jetzt auch ein bisschen irritiert. Ist das DEINE Philosophie? Wäre eine NEUE Ansicht, hm-hm! Okay, schauen wir's uns mal genauer an!
Du kannst LEBEN, und Du kannst NICHT leben. Okay!
Irgendwann hast Du mal NICHT gelebt, und irgendwann hast Du ANGEFANGEN zu leben. Gut, aber irgendwann wirst Du ja auch wieder AUFHÖREN zu leben. - Oder kurz gefragt: Kannst Du leben OHNE zu sterben? Na, haha! Wenn Du DIE Formel für das ewige Leben gefunden hast, dann hör ich Dir echt gerne zu!
Nein, im Ernst, Du kannst nicht Leben, ohne zu Sterben, Lillebror. Das ist nun mal eine Tatsache. Der Tod gehört also zum Leben. Der ewige Kreislauf eben. Der Kreislauf des ganzen Lebens. Unabänderlich. Jede Blume verwelkt irgendwann. Jedes Tier stirbt irgendwann. Jeder Mensch muss irgendwann "gehen". Auf jeden Tag folgt eine Nacht. Auf jede Nacht wieder ein neuer Tag. - Kannst DU es ändern? Oder ich? - Für diese Erkenntnis braucht es keine grossen philosophischen Erfahrungen. Philosophisch wäre es erst DANN, wenn Du fragst: WARUM?
Nein, die Frage lautet hier eher: Wie gehen wir Menschen damit um? Antwort: Eigentlich gar nie richtig. Es ist ein Tabuthema. Warum ist es ein Tabu? Ah, weil wir uns davor fürchten.

Aber Deine Frage nach dem Empfinden von Krebsbetroffenen, wenn sie die Seiten der Hinterbliebenen lesen (oder ob sie diese lesen), ist ja eigentlich keine schlechte Frage.
Nur, ... genau so gut kannst Du auch fragen, warum nicht gleich ALLE Menschen in den Krebsforen hier mitlesen und mitschreiben?
Na, kommt einfach darauf an, wie die Reaktionen darauf sind. Entweder sind die Leser hier gewillt, darauf einzugehen, oder eben auch nicht. Man kann es auch "Zeitreife" nennen, ob man sich über Tabus hinweg setzen will oder sie weiterhin zu Tabus macht. (Man könnte sich auch fragen, warum wir alle uns nicht mit dem Thema AIDS beschäftigen und JENE Seiten im Netz angucken? Tun wir's? Nö! Weil es uns nicht betrifft. Also bleibt's auch für uns ein Tabu.)

Irgendwo in einem Forum habe ich mal darüber geschrieben, dass dieses "Grüppchendenken", wie z.B. bei den Angehörigen und Betroffenen, nicht so gut sei, und diese sich doch eigentlich zusammentun sollten, und nicht nur hauptsächlich "getrennte Wege" in ihrem Meinungsaustausch gehen sollten. Denn wie kann man sonst voneinander lernen, wenn man nicht auch die anderen Seiten sehen kann?
Aber dazu sind nun mal nicht alle bereit. Es gibt Zeiten, wo man sich mit Gleichgesinnten austauschen will, weil nur DIE dieses gewisse Verständnis aufbringen können, ... aber es gibt auch Zeiten, wo man sich schnell mal mit Anderen austauschen möchte, wo man verstehen kann und kennenlernen will. Was spricht dagegen?

Aber Du möchtest wissen, was ich als Krebsbetroffene empfinde, wenn ich die Seiten für die Hinterbliebenen lese? Und OB ich sie überhaupt lese?
Es ist ganz einfach, Lillebror:
Es sind die Zeiten.
Es gibt nämlich Zeiten, wo ich keine Kraft habe, mich mit Trauernden auseinander zu setzen. Dann lese ich auch nicht dort nach. Weil es mir sehr nahe geht. Nicht, weil ich mich selber mit dem Tod konfrontiert sehe, sondern weil mir das Leid der anderen im Augenblick zu sehr schmerzt.
Es gibt aber auch "stärkere" Zeiten, wo ich dort nachlesen möchte, was andere denken, wie sie fühlen. Ich kann ja mitreden, mithelfen, wenn ich will. Vielleicht kann ich selber Trösten. Vielleicht will ich aber auch nur still mitlesen, mitweinen, ohne selber eine Zeile hinzuschreiben.

Es gibt kein "ob" und "warum nicht" oder "wie", Lillebror, ich denke, da können mir andere Betroffene bestimmt zustimmen.
Und ob ich Angst dabei habe, wenn ich diese Zeilen dort lese? Nein. Als Krebsbetroffene bin ich schon zu FEST mit dem Tod konfrontiert. Der "Mörder" sitzt auf meiner Schulter. Für den Rest meines Lebens. Ich kann somit sämtliche Themen nachlesen, die mich oder den Tod "betreffen". Das Bedürfnis ist sogar eher da, als früher. Intensiver jedenfalls. Und wenn mir danach ist, dann kann ich auch in AIDS-Foren gehen und DORT nachlesen. Ich kann nur gewinnen. Egal, was ich lese. Was Quatsch ist, sondere ich eben aus. Was solls', wir sind hier im Netz! Da ist alles offen. - Stimmt's?

Du kennst das bestimmt: Wenn Du ein schwieriges Problem hast, dann beschäftigst Du Dich nämlich auch viel intensiver mit diesem Problem. Vielleicht verschlingst Du sogar haufenweise Bücher darüber. Wählst Du dann aber nur jene Bücher aus, die ein Happyend haben? - Oder willst Du ALLES wissen?
Nun, es gibt den einen, simplen Weg, indem Du nur alle Bücher mit den Happyends liest.
Aber irgendwann wird Dir das nicht reichen. Weil Du nämlich FRAGEN hast! Weil Du fragen möchtest: "Aber was ist WENN ...?" Ha, dann wirst Du später nämlich auch jene Bücher mit den traurigen Enden lesen! - Weil Du nun mal nicht anders kannst. Und weil Du ganz genau weisst, dass nicht alles im Leben nur LEBEN bedeutet, sondern auch ein Ende findet.
Irgendwann.
Naja, und in jedem Buch findest Du ja AUCH irgendwann mal die letzte Seite, ... das Ende eben.
Happyend!
Oder auch nicht.

Es grüsst ganz lieb
die "krasse" Brigitte
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