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Alt 04.12.2007, 21:41
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Linnea Linnea ist offline
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Standard AW: ***weihnachtsgeschichten***

Liebe Ina,

heute möchte ich Dir hier einmal einen kleinen Gruß hinterlassen. Ich hoffe Du genießt die (therapiefreie) Adventszeit in vollen Zügen! Alles Liebe und Gute für Dich! Deine Linnea




Aurelius

„Zimm“, machte der Engel Aurelius auf seiner Harfe. „Zimm, zilimm.“
„Halleluja!“ Der diensthabende Oberengel blieb neben Aurelius stehen. „Halleluja“, antwortete Aurelius höflich. Denn Engel sind immer höflich.
„Was machst du heuer zu Weihnachten?“, fragte der Oberengel. „Ich weiß noch nicht“, antwortete Aurelius. „Vielleicht Harfe üben. Ich möchte zum Himmelsorchester.“
„Wir brauchen noch einen Weihnachtsengel auf der Erde“, sagte der Oberengel. „Ich habe an dich gedacht.“
Aurelius legte die Harfe weg und nickte gehorsam. Denn Engel sind immer gehorsam.
„Was habe ich zu tun?“, fragte Aurelius. „Du darfst drei Menschen auf der Erde einen Wunsch erfüllen“, antwortete der Oberengel. „Nichts leichter als das“, frohlockte Aurelius. Engel frohlocken bekanntlich gern.
Der Oberengel lächelte nur.
Aurelius nahm die nächste Eilwolke zur Erde. Er landete in einer Stadt. Menschen hasteten an ihm vorbei, Autos hupten, eine Straßenbahn klingelte schrill.
„Schau, Mama, ein Engel“, sagte ein kleines Mädchen. „Das ist nur jemand, der sich als Engel verkleidet hat“, antwortete die Mutter und zog das Kind schnell weiter. Auch sie hatte es eilig.
Aurelius betrat ein Kaffeehaus. An einem der kleinen Marmortische saß ein Mann und hielt den Kopf in die Hände gestützt. Vor ihm lag ein dicker Briefumschlag. Schon wieder hat ein Verlag sein Buch abgelehnt, las Aurelius in seinen Gedanken. Denn Engel können natürlich Gedanken lesen. Wie gut, daß ich gekommen bin, dachte Aurelius.
„Sie wünschen?“, fragte er den Mann, der düster den Brief anstarrte.
„Tee mit Zitrone“, sagte der Mann, ohne aufzuschauen.
„Haben Sie denn keinen anderen Wunsch?“, fragte Aurelius eindringlich.
Der Mann schaute noch immer nicht auf. „Ich hab doch schon gesagt, Tee mit Zitrone“, wiederholte er ungeduldig.
Aurelius seufzte und dachte eine Tasse Tee mit Zitrone auf den kleinen Marmortisch. Ein Kaffeehaus ist wohl doch nicht der richtige Platz für einen Weihnachtsengel.
Lange schlenderte Aurelius unschlüssig durch die Straßen. Schließlich hörte er Kinderstimmen aus einem großen, grauen Haus. „Volksschule“ stand über dem Eingang. Aurelius öffnete die Tür und ging einen langen Gang entlang. Die Kinder hatten gerade Pause. Sie aßen belegte Brote oder Wurstsemmeln und tranken mit Strohhalmen Milch oder Kakao. Ein paar Kinder drehten sich nach Aurelius um und kicherten.
„Der ist bestimmt vom Gymnasium drüben. Da proben sie ein Weihnachtsspiel“, sagte jemand.
Aurelius hörte leises Schluchzen. In einer Klasse saß ein Kind mit verheultem Gesicht.
„Hallo, Klaus, hast du Kummer?“, fragte Aurelius. Klaus schaute Aurelius erstaunt an. „Bist du vom Schülertheater?“
Nein, ich bin einer von den Himmlischen“, antwortete Aurelius. „Du darfst dir etwas wünschen.“
„Ich bin doch nicht so blöd und glaub so was“, sagte Klaus.
„Hab ich nicht auch deinen Namen gewußt?“ gab Aurelius zu bedenken. Klaus überlegte kurz. „Steht doch da auf meinem Heft“, sagte er dann.
„Du hast einen Wunsch frei. Versuch’s doch“, drängte Aurelius. „Na los, du Scherzbold. Dann verwandle mein Nichtgenügend in eine Sehrgut“, verlangte Klaus und schob Aurelius sein Diktatheft entgegen. Da waren fast so viele Fehler wie Wörter.
„Noten sind doch unwichtig“, sagte Aurelius. „Gibt es denn nichts Wichtigeres, was du dir wünscht?“
„Ich hab mir gleich gedacht, daß du’s nicht kannst“, sagte Klaus.
Seufzend berührte Aurelius die Heftseite. „Null Fehler. Sehr gute Arbeit“, stand da plötzlich mit Rotstift geschrieben. Im Diktat war kein einziger Fehler mehr. Sprachlos starrte Klaus auf die schön geschriebenen Zeilen. Als er wieder aufschaute, war Aurelius verschwunden.
Es war dunkel geworden. Nachdenklich ging Aurelius an den weihnachtlich geschmückten Auslagen vorbei. Er schüttelte unzufrieden den Kopf. Einmal Tee mit Zitrone und ein Sehrgut im Diktatheft... Mit dem letzten Wunsch würde er achtsamer umgehen. Plötzlich hörte er eine verzweifelte Stimme durch die dicken Wände eines Hauses. Denn natürlich können Engel durch Wände hören. Aurelius ging der Stimme nach. Durch eine Wohnungstür im ersten Stock konnte man die Stimme ganz deutlich hören. Auch wenn man kein Engel war.
„Wenn ich nur wüßte, was ich machen soll! Es ist zum verzweifeln!“, jammerte die etwas schrille Stimme. Aurelius läutete. Die Tür wurde sofort aufgemacht.
„Na, endlich sind Sie da“, sagte eine rundliche kleine Frau mit rotem Gesicht, ohne Aurelius anzusehen. „Fangen Sie gleich an, die Brötchen anzubieten.“
„Brötchen?!“ Aurelius war verwirrt.
Jetzt schaute ihn die rundliche kleine Frau an. „Bringen Sie nicht die Brötchen für unsere Weihnachtsfeier?“, fragte sie entsetzt. „Ja, was wollen Sie denn dann? Und warum sind Sie verkleidet, um Himmels willen?“
„Um Himmels willen“, bestätigte Aurelius. „ich bin hier, um ihnen einen Wunsch zu erfüllen.“
„Sie sehen doch, Sie stören“, sagte die Frau nervös. „Das ist eine private Weihnachtsfeier.“ Es läutete wieder an der Tür. Diesmal waren es die Brötchen. Drei Kellner reichten üppig beladene silberne Teller herum. Die Brötchen waren kunstvoll verziert. Aurelius lehnte dankend ab. Engel essen keine Brötchen.
„Haben Sie denn keinen Wunsch?“, fragte Aurelius die Frau. Ein paar Gäste kamen näher und hörten zu. „Wir haben hier einen Weihnachtsengel“, rief die Frau. „Hat zufällig irgendjemand einen Wunsch?“ Die Gäste lachten und redeten durcheinander.
„Er soll beweisen, daß er ein echter Engel ist“, rief ein Gast laut. „Vielleicht schweben oder was Engel halt so tun.“
„Ihr vergeudet eine Gelegenheit, die vielleicht nie wiederkommt“, sagte Aurelius eindringlich.
„Wunsch ist Wunsch“, sagte der Gast störrisch. „Jawohl, Beweise“, sagte jemand anders lachend.
Aurelius war mit seiner Engelsgeduld am Ende. Er hob die linke Hand. Farbige Lichtstrahlen breiteten sich rund um ihn aus und wurden zu einem intensiven Leuchten. Einen Augenblick blieb Aurelius so stehen. Dann schwebte er durch das Doppelglasfenster in die dunkle Winternacht. Wie eine Sternschnuppe verglühte das Licht am nachtschwarzen Himmel.

„Frohe Weihnachten, lieber Aurelius“, rief der Oberengel zur Begrüßung. „heuer bin ich Weihnachtsengel für die Himmlischen. Du hast einen Wunsch frei.“
„Halleluja!“, frohlockte Aurelius. Leise und fast richtig begann er „Stille Nacht“ auf seiner Harfe zu spielen.
„Dein Wunsch?“, fragte der Oberengel.
„Nie wieder Weihnachtsengel!“, sagte Aurelius.

Edith Schreiber-Wicke
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Einen Menschen zu lieben heißt:
Ihn zu sehen wie Gott ihn gemeint hat.
Liebe ist das Geheimnis der Brotvermehrung.
- Christine Busta -
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