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Alt 07.01.2008, 00:55
Booth Booth ist offline
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Registriert seit: 25.12.2007
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Standard AW: Vermutlicher Hirntumor... was nun?!

Erneutes Update bzw eher ein OP-Bericht aus der Sicht eines Angehörigen - und zusammengefasst kann ich nur sagen: Ich hasse Komplikationen.

Letzten Donnerstag wurde meine Mutter operiert. Die Tage zuvor wurde uns nochmal genau das MRT erklärt, wo nicht nur ein Tumor entdeckt wurde (wie ich beim ersten mal fälschlicherweise verstanden hatte), sondern drei! Alle im Kleinhirn, zwei davon recht groß und direkt nebeneinander und aussen liegend. Ein kleinerer innen liegend, der noch nicht entfernt werden sollte und auch nicht wurde.

Meine Mutter hat leider ihre pessimistische Art nicht verloren und hat die Tage zuvor ständig Bemerkungen gemacht, als wäre die OP ihr Tod, obwohl die Ärzte uns große Hoffnungen machten, daß sie die OP gut überstehen würde. Auch wenn sie es nicht so gesagt hat, habe ich selber den Eindruck, als hat sie die OP eher wie eine Hinrichtung wahrgenommen, als wie ein nötiger und wichtiger Versuch ihr zu helfen.

Die OP verlief laut Arzt quasi ohne Komplikationen und dauerte am Donnerstag ca. 4 Stunden. Die beiden Tumore konnten einwandfrei rausgenommen werden, wie geplant, und es gab während der OP keiner Komplikationen. Anschließend wurde meine Mutter auf die Intensiv-Station gebracht, wo ich sie nur ca. 1-2 Stunden nach der OP am frühen Abend sehen konnte, was natürlich ein leichter Schock war. Mehrere Schläuche, sie wirkte doch arg mitgenommen und hinterm Bett Technikbauten wie im Raumschiff Enterprise. Ich hatte nun die Hoffnung, daß sie bald wach würde, und sogar nach kurzer Zeit zu reden beginnen würde - leider musste ich genau an dem Abend bis zum nächsten Nachmittag in eine andere Stadt und meinen Vater alleine lassen.

Es ist an dem Abend aber nichts mehr passiert, ausser der gescheiterte Versuch, sie schon alleine atmen zu lassen. Am nächsten Mittag besuchte mein Vater sie dann erneut, und war total schockiert über die geringen Fortschritte. Meine Mutter war zwar wach, und öffnete extrem matt einige male die Augen und konnte auch einmal lächeln, aber ansonsten passierte wenig. Von "miteinander sprechen" keine Spur. Die Besuchszeiten auf der Intensiv sind auch recht kurz - Mittags von 11:30-13:00 und Abends von 17-19 Uhr. Mein Vater verließ enttäuscht um 13 Uhr am Freitag die Intensiv und hoffte auf den Abend, wo wir dann wieder gemeinsam auftauchten und uns ein Arzt am Bett meiner Mutter empfing, die wieder vollständig weggetreten war. Es war direkt vorher ein CT gemacht worden, und das Hirn ist nach der OP weiter angeschwollen, sodaß eine Drainage gelegt werden sollte, sagte der Arzt.

Wir waren natürlich ziemlich entsetzt, weil wir dachten, daß die Komplikationen eher unwahrscheinlich wären - zumindest habe ich das der OP-Vorbesprechng so entnommen, und war eigentlich extrem optimistisch, daß alles glatt läuft. Pustekuchen. Aber OK... Drainage... ein weiteres kleines Loch im Kopf... sie wird es wohl überleben. Also stimmten wir schließlich zu, und der Arzt machte sich ans Werk, was nicht sooo lange dauerte. Anschließend durften wir nicht nochmal zu meiner Mutter, aber er versicherte uns, daß alles nun besser aussieht, da sie direkt nach der Drainage mit Augenöffnen reagiert hätte. Na gut... also wirds dann halt am Samstag was mit dem ersten Gespräch - und wir gingen nach dem Hoffnung machenden Gespräch mit dem Arzt wieder heim. Ich ging dennoch mit einem schlechten Gefühl ins Bett - ich hasse Komplikationen. Aber das sollte erst der erste Teil sein.

Um ca. viertel nach 4 in der Nacht klingelte mich dann das Telefon wach, und einer der neurochirurgischen Oberärzte war am Telefon: Notfall! Das Hirn meiner Mutter ist weiter geschwollen und er müsste nun erneut was tun. Mir raste das Herz und es wollte beinahe zerspringen, als er mir erzählte, was er zu tun gedenke: Insbesondere das Kleinhirn wäre extrem geschwollen und obwohl die herausoperierten Tumore bereits viel Platz gemacht hätten, reicht das nicht - das Kleinhirn drückt aufs Stammhirn was akute Lebensgefahr bedeutet. Einziger Therapievorschlag vom Arzt: Er müsste von der Hälfte des Kleinhirns, wo die Metastasen entfernt wurden, ca. 50% absaugen. Mein Gott - gesundes Hirngewebe zerstören. Das ist doch Wahnsinn.

Obwohl ich inzwischen soviel gelesen hatte, daß ich wusste, daß das Kleinhirn insbesondere für Fein-Sensorik und -Motorik verantwortlich sein soll, und selbst komplette Kleinhirn-Entfernungen von Patienten gut bis sehr gut überstanden wurden, konnte ich nicht direkt mein Einverständnis geben, sondern wollte wissen, ob grössere neurologische Schäden nicht doch entstehen könnten. Der allergrösste Horror meiner Mutter: Als langjähriger Pflegefall mit geistiger Behinderung enden.

Der Arzt konnte natürlich nichts versprechen, und er drängte auf die Zeit, wohingegen ich weiter diskutieren wollte - es entstand schließlich ein Streitgespräch, in welchem er sagte, daß er als momentan verantwortlicher Arzt diese OP durchzuführen gedenke, auch ohne meine Zustimmung, und daß es um Minuten ginge, sodaß ich am Ende des Gesprächs ich nur sagen konnte, daß er tun solle, was er für richtig halte.

Ich machte ein ausführliches Protokoll vom Gespräch und schrieb auch meine Gedanken auf, und hatte am nächsten Morgen die Aufgabe, dies meinem Vater zu erzählen, nachdem ich kein Auge mehr zugemacht hatte, als das Gespräch mit dem Arzt zu Ende war.

Am Samstag Mittag auf der Intensiv lag meine Mutter wieder komatös in ihrem Bett - nun noch mit einer Drainage und zusätzlichen Schläuchen... kein ermutigender Anblick. Sie war zu dem Zeitpunkt erst wenige Stunden wieder aus der OP und war noch nichtmal wieder bei 36 Grad Körpertemperatur. Na super. Wir gingen ziemlich betreten nach Hause und ich hatte den Eindruck, daß es der grösste Fehler meines Lebens war, meine Mutter zu dieser OP zu raten.

Als wir dann am Abend wieder auf der Intensiv standen, sagte man uns vorher, daß meine Mutter Fortschritte zeigte, da sie nun ansprechbar wäre. "Ansprechbar"... was für ein erleichterndes Wort... man denkt, man spricht jemanden an, der lächelt, antwortet... sowas halt. Tja... Ärzte haben halt eine eigene Sicht der Sprachkonventionen. Als ich vor meiner Mutter stand, sah ich Null Unterschied zum Mittag. Ich rief ihren Namen, aber sie machte keinen Mucks. Dann kam der Arzt und rüttelte wild an ihrer Schulter und rief laut ihren Namen. Sie öffnete für eine Sekunde ihre Augen, die sich sofort wieder schlossen und hob für dieselbe Zeitspanne kurz einen Unterarm. "Sehen sie... sie ist ansprechbar". Ich hätte dem Arzt in diesem Augenblick am liebsten meinen Deutschlehrer auf den Kopf geworfen.

Nach einer längeren Diskussion machte mir der Arzt klar, daß er dies aus neurologischer Sicht als klaren Fortschritt ansieht, und wie es weitergeht: Nämlich mit warten. Er klang in allem was er sagte sehr hoffnungsvoll. Der dritte (oder vierte?!) Arzt der locker-lustig Hoffnungen macht, während ich nur meine Mutter komatös mit Schläuchen zugestopft rumliegen sehe. In diesem Augenblick ist mir klar geworden, daß ich in Zukunft nie mehr das hoffnungsvolle Geschwafel von Ärzten ernst nehmen werde. Ärzte sind letztlich handelnde Statistiker. Sie wissen, wie "in aller Regel" die Patienten sich so machen... aber ob man selber dazugehört ist bei jeder Situation für eine individuelle Person immer eine 50:50-Angelegenheit. Mich als Einzelnen werden in Zukunft all diese Statistiken nicht mehr interessieren. Ich werde jeden Eingriff und jedes Behandlung als Kampf ansehen, den ich zu führen habe, und ob ich da heile rauskomme, wird niemand sagen können. Was habe ich davon, wenn von 1.000 Hirn-OPs am Kleinhirn so eine Komplikation nur 5 mal auftritt, aber ich einer der 5 Leute bin?! Nix.

Am heutigen morgen waren wir dann natürlich wieder bei meiner Mutter und sie war nun tatsächlich wach, und reagierte auf Ansprache ohne ihr ein mittelschweres Schleudertrauma zu verursachen. Sie öffnete die Augen, reagierte auf Fragen mit leichtem Kopfnicken oder -schütteln, wollte mehrmals leicht ihren Körper aufrichten, und erkannte mich und meinen Vater eindeutig. Endlich mal etwas mehr. Sie weinte auch zwei- oder dreimal. Vor Erleichterung wie ich hoffte. Nachdem sie aber kurz ihre glausigen Augen für ein paar Sekunden aufgerissen hatte, und ihren Arm in einer unermesslichen Kraftanstrengung anheben konnte, war sie für mehrere Minuten wieder weg. Mein Vater und ich redeten ihr viel zu, und redeten auch über belangloses Zeug miteinander, einfach damit sie unsere Stimmen hören konnte. Nach anderthalb Stunden mussten wir um 13 Uhr wieder gehen, und waren nun wieder ein wenig optimistischer.

Am Abend waren wir natürlich wieder dort, und der Zustand hat sich eigentlich kaum verändert. Sie konnte zwar nun öfters die Augen öffnen, hat aber nach wie vor kaum was erkannt. Dafür weinte sie nun recht oft in der zweiten Besucherstunde - diesmal hatte ich den Eindruck, daß sie wieder vor panischer Angst und Verzweifelung weinte. Auf gutem Zureden, daß alles gut wird, schüttelte sie mehrmals den Kopf. Es zerriß mir das Herz, und wenn ich im Moment wieder über die negative Einstellung meiner Mutter nachdenke, weiss ich nicht, ob ich heulen oder schreien soll.

Im Moment habe ich keine Ahnung, wie viele ich von diesen "Sessions" noch durchhalte. Wenn sie sich nicht morgen endlich soweit erholt, daß sie selber atmen kann, und vielleicht auch ein paar Worte reden kann, und selber deutliche Fortschritte sieht, dann wirds echt hart. Sie kann nicht reden, nichts tun, nur da liegen und darauf warten, daß die scheiss Hirnschwellung endlich zurückgeht, und beten, daß die entfernten Hirnbereiche keine grösseren Probleme verursachen. Und man kann ihr nichtmal erklären, daß nur diese doofe Schwellung zurückgehen muss. Ich bilde mir ein, genau zu wissen, was sie am Abend nach einem halben Tag in diesem Zustand dachte: So werde ich den Rest meines Lebens verbringen. Total gelähmt, ohne reden zu können - ein totaler Pflegefall.

Wenn es nicht bald endlich besser wird nach diesen zwei letzten Horrortagen, dann brauche ich bald selber eine Intensiv-Station.

Sorry, wenn das alles eher negativ klingt. Die Ärzte haben noch immer die Erwartung, daß die Schwellung nun endlich zurückgeht, und sie in einiger Zeit (Tage, Wochen?! Niemand kann es sagen...) wieder die Alte sein wird. Wenn ich sie weinend, schluchzend mit total glasigen Augen, kaum die Kraft, einen Arm anzuheben mit lauter Schläuchen zur Beatmung, Ernährung, Medikamentierung dort liegen sehe, fällt es mir schwer daran zu glauben, auch wenn mir mein sachlicher Teil in meinem Kopf sagt, daß es so kommen wird.

Sagte ich schon, daß ich Komplikationen hasse?!

gruß
Booth
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