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Alt 16.03.2002, 23:40
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Beiträge: n/a
Standard Die Achterbahn der Trauer

Hallo Ihr hier draußen im Netz,

bin heute durch Zufall auf dieses Forum hier gestoßen und habe jetzt lange darin gelesen. Soviel schmerzlich Vertrautes - und dabei trotzdem endlich das Gefühl: Hier gibt es Menschen, die verstehen, was ich gerade durchmache. Und das ist gerade jetzt so wichtig!

Ich habe meinen Liebsten am 17. Januar an den Krebs verloren. Das ist jetzt zwei Monate her, und trotzdem ist meine Existenz seitdem eine einzige Achterbahnfahrt aus Albtraum, Trauer, Verzweiflung, Flucht usw... Christiane, besonders Deine Beiträge haben mich berührt, denn mir erging es nach Garys Tod fast ganz genauso wie Dir. Es wird auch noch eine lange Zeit dauern, bis wir das Gröbste überstanden haben. Die große Lücke und die immer mal wieder blutenden Wunden werden bleiben.

Die Diagnose CUP-Syndrom (Cancer of Unknown Primary, lymphatisch metastasiertes Karzinom mit unbekanntem Primärtumor) erhielt Gary im April 2001. Seit November 2000 ging es ihm gesundheitlich schlecht - Rückenschmerzen, Atemnot, Husten, Nachtschweiss usw. Es begann eine Odyssee von Arzt zu Arzt, er wurde zunächst auf Arthritis behandelt. Damit man den Rest besser versteht, sollte ich noch kurz erklären, dass Gary seit 1993 in Deutschland lebte, wo wir uns zu dem Zeitpunkt auch kennen und lieben gelernt hatten.

Dann Anfang April Mediastinoskopie, Halslymphknoten-Biopsie und die niederschmetternde Nachricht: Es sind Metastasen. Von Anfang an war uns klar, dass die Prognose düster ist. Metastasen beidseitig vom Zwerchfell - da ist nix mehr zu machen! Nicht von den Ärzten haben wir all die Informationen bekommen, die wir so dringend brauchten, sondern aus dem Internet. Den Ärzten in der Onkologie musste man jede noch so kleine Information aus der Nase ziehen. Als nach fast vier Wochen intensivem Staging immer noch kein Primärtumor, sondern nur weitere Metastasen gefunden wurden, ging die Chemo los.

Ich glaube, meine Trauerarbeit fing am Tag von Garys Diagnose bereits an. Es ging ihm sehr schlecht zu der Zeit, und wir hatten nicht mehr viel Hoffnung. Im Mai dachten wir dann schon, es geht zu ende. Ich war kurz davor, seine Tochter aus den USA herüber zu holen. Aber dann schlug die Chemo an. Die Tumore schrumpften, und es ging ihm sichtlich besser. Wir fingen wieder an, Zukunftspläne zu schmieden, planten, nach Abschluss der Chemo nach Kalifornien zu gehen, wo er ein Buch schreiben wollte über sein Leben. Gary war 60 (würde morgen 61 werden), und ich bin 41.

Es ging ihm so gut, dass wir im Juli 2001 zwischen zwei Chemozyklen in die USA geflogen sind, seine Freunde und seine Familie besuchen. Dort haben wir viel unternommen, und er war fast wieder der Alte. Im August (nach der fünften Chemo) kam seine Tochter mit den zwei Enkeltöchtern für vier Wochen nach Deutschland, wir haben viel unternommen zusammen. Gary ging es gut. Keine Beschwerden und auch keine Nebenwirkungen von der Chemo. Nicht mal Haarausfall. In dieser Zeit hatten wir den Gedanken an eine schlechte Prognose oder einen bevorstehenden Tod völlig verdrängt. Mit Ausnahme der jeweils fünftägigen stationären Gastspiele im Krankenhaus war alles irgendwie wieder beim Alten. Anfang Oktober, nach der sechsten und letzten Chemo kam dann sein Sohn für zwei Wochen nach Deutschland, und wir sind sogar noch alle drei nach München aufs Oktoberfest gefahren und haben uns dort ordentlich einen gelötet.

Als der wieder weg war, dann die schlechte Nachricht: Beim Abschlußstaging hatte man einen chemoresistenten Halslymphknoten gefunden, und jetzt war Strahlentherapie angesagt. Die begann im November und Gary sackte binnen weniger Wochen gesundheitlich buchstäblich zusammen, wurde schwächer und schwächer, hatte immer stärker werdende Rückenschmerzen, und dazu kam noch ein fürchterlicher Juckreiz. Nebenwirkungen der Strahlentherapie, dachten wir und auch die Ärzte, denn schließlich ist das ja keine Höhensonne! Dann kam der Dezember, Weihnachten rückte näher, und Gary schlich nur noch "wie der Tod auf Latschen" durch die Gegend.

Die Ergebnisse seines letzten Check-ups hatten wir noch immer nicht, und so waren wir eigentlich davon ausgegangen, dass alles im Lack sein muss. Angesichts seines sich rapide verschlechternden Zustands sind wir dann aber doch Mitte Dezember in die Onkologie gefahren, um mal Taches zu reden. Dort erfuhren wir von einer hektischen Stationsärztin zwischen Tür und Angel, dass Gary sich bitte umgehend nach Beendigung seiner Strahlentherapie wieder auf Station zu einer neuen Chemo einfinden solle - eine andere Kombination diesmal. Im Abdomen-CT seien neue wachsende Lymphknoten gefunden worden. Das mal eben so nebenbei im Stehen auf dem Krankenhausflur in einer Krebsstation. Feinfühliger geht's echt nicht mehr! Man nannte uns noch die Namen der Präparate: Cisplatin und Gemcitabin, mehr aber auch nicht. Wir waren beide fix und fertig nach dieser Nachricht - und vor allem geschockt über die Art und Weise, wie sie uns übermittelt wurde.

Jetzt war uns beiden klar: Das würde sein letztes Weihnachten werden. Es war so scheißtraurig. Wir haben darüber gesprochen, auch über den Tod und das Sterben, und das war wichtig. Er entschied sich dafür, dieses letzte Weihnachten bei seiner Familie in den USA zu verbringen und bat mich, mitzukommen.

Drei Tage vor Weihnachten musste ich ihn in Oklahoma City in die Notaufnahme des Krankenhauses bringen. Er hatte starke Bauchschmerzen, konnte keine Nahrung mehr behalten und war außerdem noch knallgelb. Es folgte eine der grauenvollsten Nächte in unser beider Leben, dort im Emergency Room. Das Ergebnis: Ein Tumor von 8 cm Durchmesser quer durch die Pankreas, der bereits dabei war, die Aorta zu verschließen, und die Leber sei am Versagen. Morgens um 4 wurde er dann endlich stationär aufgenommen.

Trotzdem durfte er über Weihnachten "nach Hause", aber es war ein trauriges Weihnachten. Er war zu schwach, um viel von dem Trubel mitzukriegen, den seine Familie dort veranstaltete, lag nur auf der Couch. Ich blieb bei ihm, während das Leben dort weiter ging, brachte ihm hin und wieder etwas Haferschleim und Tee und hielt seine Hand. Wir nahmen Abschied voneinander. Langsam und schweigend.

Auf seinen ausdrücklichen Wunsch hin sind wir trotzdem noch zwei Tage nach Silvester nach Kalifornien geflogen, um nochmal mit dem Arzt in dem Cancer Center zu reden, von dem wir im Juli so beeindruckt gewesen waren. Der Flug (mit Umsteigen in Denver) war der Horror. Ich dachte jeden Moment, der Gary klappt mir auf der Stelle zusammen. Allein hätte er diesen Trip nie und nimmer gepackt. Der Arzt dort sagte uns, Gary solle jetzt unbedingt entscheiden, an welchem Ort er das Ende seines Lebens verbringen möchte: In Kalifornien, Oklahoma oder Deutschland. Seine Entscheidung fiel noch am selben Abend: Oklahoma.

Nach einer grauenvollen Nacht im Motelzimmer am Strand von Los Angeles (er übergab sich mehrfach, schließlich auch Blut) flogen wir am 5. Januar zurück nach Oklahoma City. Wie er das überhaupt noch überstanden hat, ist mir noch heute ein Rätsel. Er hat viel geschlafen während des Flugs, seine warme Hand in meiner, und ich habe mir währenddessen die Augen aus dem Kopf geheult.

Gleich am nächsten Tag habe ich ihn wieder ins Krankenhaus gebracht und bin bei ihm geblieben. Am Tag darauf haben die Ärzte einen so genannten Stent legen müssen, weil alle seine Verdauungswege inzwischen blockiert waren, und damit überhaupt wieder irgendwas durchfließt. Die Onkologin sagte, sie wolle mit der neuen Chemo anfangen, sobald die Leber wieder richtig arbeitet. Das klang alles recht schlüssig. Und mein Flug zurück nach Frankfurt war für den folgenden Tag gebucht. Wir hatten das alles durchgesprochen. Ich würde erstmal nach Frankfurt zurück fliegen, hier ein paar wichtige Dinge erledigen und ihn dann Ende Februar wieder in Oklahoma besuchen. Die Chemo würde etwa bis März/April dauern, und dann könne er wieder zurück nach Deutschland kommen. Sein Ticket hat er auf alle Fälle nicht storniert, sondern behalten.

Am Tag als der Stent gelegt wurde, war ich die ganze Zeit bei ihm. Der Eingriff fand nachmittags um 17 Uhr statt, und an diesem Tag ist er aus der Narkose nicht mehr erwacht. Das letzte Mal, dass wir einander an den Händen gehalten haben, war, als er im Fahrstuhl in seinem Bett lag. Ich habe ihn am nächsten Morgen vom Flughafen aus noch angerufen. Da war er gerade aufgewacht, und es war gut, dass wir vor meinem Abflug noch einmal sprechen konnten.

Der Rückflug nach Deutschland war tränenreich und schrecklich. Aber was dann kam, war noch schrecklicher. Zwei Tage lang konnte ich noch mit Gary am Telefon sprechen - wobei seine Stimme immer schwächer wurde und er immer schlechter zu verstehen war. Am Sonntag, den 12. Januar habe ich das letzte Mal mit ihm gesprochen. An dem Tag kam er auf die Intensivstation. Die Leber hatte nie wieder angefangen zu arbeiten, und sein Blutdruck war in den Keller gestürzt. Ich buchte sofort einen Flug nach Oklahoma für den 18. Januar (Freitag) - eher war nicht möglich. Am Montag, 13. Januar, gaben die Ärzte ihm noch zwei Tage. Ich telefonierte stündlich mit der Intensivstation, auch mit seiner Tochter oder wer immer gerade bei ihm war. Am Mittwoch mittag gaben sie ihm noch zwei Stunden - es war eine Qual ohnegleichen, und ich konnte nicht bei ihm sein! Etwas Schlimmeres kann ich mir eigentlich nicht vorstellen. Hier brannte Tag und Nacht eine Kerze für ihn, ich habe mich an seine Hemden und Shirts geklammert, die noch nach ihm rochen und war Tausende Kilometer von ihm entfernt. Er starb am Donnerstag, den 17. Januar um 11:56h Ortszeit (19:56h MEZ). Die schwärzeste Stunde meines Lebens!

Gleich am nächsten Morgen um 8 ging mein Flug nach Oklahoma. Einen Tag zu spät! Eine grausame "Reise". Überhaupt ist seitdem alles nur noch schmerzvoll und grausam. Ich habe eine Weile an seinem geöffneten Sarg verbracht, in dem er aufgebart war, ein letztes Mal seine - nun kalte und steife - Hand gehalten, ein letztes Mal über sein Gesicht gestreichelt, meine Kopf auf die erstarrte und kalte Brust gelegt. Abschied. Ich hätte sonst nicht glauben können, dass er wirklich tot ist, kann es trotzdem heute immer noch nicht glauben. Die Beerdigung war am 21. Januar und eine der bewegendsten Zeremonien, die ich je erlebt habe. Ich habe ihm dabei eine rote Rose so in die Hände gegeben, dass die edle Blüte dort zum Ruhen kam, wo einmal sein warmes und großzügiges Herz geschlagen hat. Danach wurde der Sarg für immer verschlossen - und seitdem habe ich das Gefühl, dass der wichtigste Teil meines Lebens da mit 'reingegangen ist.

Sorry, dass das jetzt so furchtbar lang geworden ist, aber ich habe das Gefühl, das alles hier Menschen zu erzählen, die *verstehen*, was ich bei alldem gefühlt habe und wie es mir jetzt geht. Gar nicht gut! Nach dem anstrengenden, tränenreichen Rückflug dann hier gleich der Zirkus mit Nachlassverwaltung, Wohnungsauflösung - alles sehr kompliziert, wenn jemand in Deutschland gelebt hat, der gesamte Nachlass aber in den USA verwaltet wird. Nach etwa zwei Wochen bin ich einfach umgekippt. Da ging's mir ungefähr so wie Christiane. Konnte nicht mehr essen, nicht mehr schlafen, völlig durch'n Wind, und nachdem ich mehrfach schwer gestürzt bin, bin ich freiwillig für ein paar Tage in die psychiatrische Krisenintervention gegangen. Das hat mir einigermaßen geholfen, überhaupt wieder irgendwas in meinem Kopf zu sortieren. Ich habe auch Freunde - aber die meisten können nicht nachvollziehen, was in mir vorgeht derzeit. Anschließend habe ich mich in meine Arbeit geflüchtet - ich bin selbständig, und alle meine Projekte waren für zwei Monate komplett zum Erliegen gekommen. Merke aber auch, dass das eine Flucht vor der Trauerarbeit ist, die ich noch leisten muss. Oft kommt es einfach durch, unerwartet, unkalkulierbar plötzlich der Zusammenbruch, dieses schwarze Loch neben mir, da, wo bis vor kurzem noch Gary war mit seiner Wärme, seiner Liebe und seinem Humor.

Ich erwische mich derzeit dabei, dass ich mich die meiste Zeit einfach abspalte von meiner Trauer, so als wären da zwei verschiedene Personen: die Trauernde und die Lebende. Die beiden kommen miteinander noch nicht klar und sind sich gegenseitig im Weg. Das meinte ich mit "Achterbahn".

Lieben Dank fürs Zuhören

Marianne
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