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Alt 23.08.2012, 15:31
El_Desparecido El_Desparecido ist offline
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Registriert seit: 23.08.2012
Beiträge: 80
Standard Lungenkrebs - es sieht ganz und gar nicht gut aus.

Hallo Zusammen,

ich heiße Carlos, bin 39 und vor einer Woche war mein Leben noch in Ordnung – zumindest weitgehend.
Heute liegt es in Scherben vor meinen Füßen und mit jedem Schritt den ich mache, schneidet eine von ihnen eine blutende Wunde in meine Sohlen.

Seit Anfang Juli sind meine Eltern in Spanien im Urlaub gewesen. Meine Mutter ist Spanierin, haben ein Haus dort. Sie wollten drei Monaten bleiben.
Vorgestern vor einer Wochen gegen 22.00 Uhr rief mich meine spanische Cousine an und reichte den Hörer an meine Mutter weiter. Sie sagte mir es gäbe ein Riesenproblem: den Zustand meines Vaters.
Er leide seit knapp einer Woche unter Sehstörungen (Doppelbilder), Schwindel und immer schlimmer werdenden Gangunsicherheiten. Zu diesem Zeitpunkt konnte er sich nur noch fortbewegen, wenn er sich irgendwo entlang hangelte – also an einer Mauer zum Beispiel – und das auch nur wenige Meter.
Ins Krankenhaus wollte mein Vater bis dahin nicht, weil er die Beschwerden auf die Nebenwirkungen des Prostatamedikaments schob, das er seit kurzem nahm und setzte es ab. Im Beipackzettel waren leider unter anderem genau diese Symptome aufgeführt.
Die Beschwerden wurden leider nicht weniger, sondern schlimmer. So schlimm, dass meine Mutter ihm drohte abzureisen, wenn er nicht ins KH ginge.
Er ging also.
Thorax-CT auffällig, ziemlich große Raumforderung in der Lunge, ziemlich sicher bösartig. Bedarf weiterer Abklärung.
Kopf-CT auffällig, Verdacht auf Hirnmetastasen oder Schlaganfall und irgendetwas an der Nasennebenhöhle. Bedarf näherer Abklärung durch ein MRT.

Eine Diagnose wie ein Donnerschlag.
Die Ärzte wollten meinen Vater natürlich dort behalten, aber er hat sich unter fast Randale artigen Umständen geweigert. Sein Vertrauen in spanische Ärzte ist nicht sonderlich ausgeprägt, ausserdem gleich sein spanischer Wortschatz dem eines Dreijährigen.
Nein, er wollte zurück nach Deutschland, sofort.

Soweit die Schilderung des Riesenproblems durch meine Mutter.

Ich buchte also für den nächsten Tag zwei Rückflüge inklusive Betreuung durch das Rote Kreuz mit Rollstuhl für meinen Vater.

Das klappte alles gut und am nächsten Tag gegen 22.35 Uhr holte ich meine Eltern vom Flughafen ab. Mein Vater saß zusammengesunken im Rollstuhl und sah mich abwechselnd traurig an und zeterte über unfähige spanische Ärzte. Schon bei den ersten Sätzen fiel mir eine ziemlich verwaschene Aussprache auf.

Eigentlich wollte ich meinen Vater sofort ins nächste Krankenhaus fahren, aber er wollte erstmal nach hause und am nächsten Morgen erstmal mit seinem Hausarzt telefonieren, wegen der Prostatamittel...
Ich dachte kurz nach und entschied mich nachzugeben, da wenn er diese Symptome schon eine Woche lang hat, vermutlich keine akute Lebensgefahr besteht. Da mir klar war, dass er morgen in jedem Fall ins Krankenhaus kommen würde und es vermutlich auch so schnell nicht wieder verlassen wird, gönnte ich ihm die Nacht in seinem Bett. Ich weiss nicht, ob das richtig war.
Aber ich war mir darüber im Klaren, dass es nicht gut um meinen Vater bestellt ist.

Es war schwierig ihn ins Auto zu verfrachten und schwierig ihn schliesslich ins Haus zu bekommen. Hilfe konnte er nur sehr schwer zulassen. Er schwankte sehr stark und wenn man ihn stützen wollte reagierte er ziemlich aggressiv, man solle ihn in Ruhe lassen, er könne das alleine...
Er hakte sich bei mir letztlich doch unter und er wollte erst mal auf die Terrasse und eine mit mir rauchen. Wir schneckten also los und rauchten unsere vermutlich letzte Zigarette. Danach sorgte ich gemeinsam mit meiner Mutter dafür, dass er ins Bett kommt.

Am nächsten Morgen war der Zustand noch ein wenig schlimmer. Noch immer war mein Vater der Meinung ohne Hilfe gehen zu können, versuchte zur Toilette zu kommen, nachdem er jede Hilfe energisch zurückwies. Ich hätte schreien können. Dann rumpelte es und er schrie. Ich eilte zu ihm und er war einfach umgekippt gegen eine Wand und konnte sich mit Mühe dagegen wehren nicht auf den Boden zu knallen. Mit angsterfüllten Augen sah er mich an und ich zurück. Ich hakte ihn unter, schleppte ihn zur Toilette, setzte ihn drauf und hielt ihn fest, damit er nicht umfällt.

Anschliessend schleppte ich ihn zurück in die Küche, wir frühstückten in aller Eile, zogen meinen Vater an und fuhren ins Krankenhaus.

Dort wurden verschiedenste Untersuchungen gemacht, nochmals ein Thorax-CT und der Verdacht auf Lungenkrebs bestätigt.
Natürlich wollte mein Vater noch immer nicht im Krankenhaus bleiben und erst als ich ihm energisch ins Gewissen redete und an seine Vernunft appellierte, gab er klein bei.
Gegen 17.00 Uhr wurde er von der Notaufnahme auf die Lungenstation des AK Hamburg Altona verlegt.
Das war genau vor einer Woche. Die Rasanz der Entwicklung seither raubt mir den Atem.
Am Freitag konnte er nicht mehr alleine (auf)stehen. Er saß an der Bettkante, ich rechts von ihm, meine Mutter links und fassten ihn unter die Achseln, um ihn zu unterstützen. Er versuchte aufzustehen, sah uns mit Tränen in den Augen an und nuschelte verwaschen: „Es geht nicht“. Daraufhin legten wir zurück ins Bett.
Eine Weile sahen wir uns alle an und wir hielten seine Hände. Dann setzte er wortlos Kopfhörer auf, machte den Fernseher an und starrte drauf. Er tat und tut das, obwohl ich genau weiss, dass er wegen der Doppelbildung so gut wie nichts erkennt. Ich erkannte, er verschliesst sich, kapselt sich ab. Dabei nickte er immer wieder ein.
Abends hatte er kaum noch die Kraft alleine zu essen, geschweige denn seine Brote selbst zu schmieren. Zum Mund führen und kauen ging gerade noch.
Kurzum mein Vater ist ein gewindeltes, kraftloses Bündel Elend. Jegliche Kraft ist aus ihm gewichen. Ich ahnte zwar von Anfang an, was die Stunde geschlagen hatte, aber da wurde es mir schlagartig bewusst: mein Vater biegt auf die Zielgerade seines Lebens ein.

Und nichts ist geregelt. Gar nichts. Keine Patientenverfügung – obwohl meine Eltern seit Jahren davon reden, das unbedingt machen zu müssen und zu wollen, keine Vorsorgevollmacht, meine Mutter hat noch nicht einmal Vollmacht für die Bankkonten.

Da ich genau weiss, dass mein Vater wirklich eine Patientenverfügung möchte, überlegte ich, ob ich ihn darauf ansprechen sollte. Den ganzen Freitag überlegte ich hin und her, sprach mit meiner Mutter darüber und wir entschieden uns dafür, auch wenn es in der Situation wirkte, wie mit ihn sein Todesurteil zu besprechen.
Im Januar hatte zum Beispiel eine Nachbarin einen wirklich schweren Schlaganfall und ist seitdem ein Pflegefall. Kann nicht laufen, nicht sprechen, nur eingeschränkt sehen. Jedes mal sagte mir mein Vater, nachdem er von einem Besuch zurückkehrte: „Schrecklich. Lieber tot überm Zaun hängen, als so.“ (O-Ton).

Ich war mir also sicher, es ist letztlich in seinem Sinne und ich scheue mich nur vor der Schwere der Situation und der Schrecklichkeit des Gesprächsinhalts.

Am Samstag nahm ich all meinen Mut zusammen und sagte zu ihm: „Papa, du wolltest immer eine Patientenverfügung machen, hast es aber nicht, oder?“ Er schüttelte den Kopf. „Wollen wir das noch machen?“ Er nickte.

Ich informierte mich also eingehend und druckte Standardformulare für Patientenverfügung und Vorsorgevollmacht aus. Das war das Beste, was ich in der Kürze der Zeit machen konnte.

Am Sonntag fragte ich ihn noch einmal, ob er das machen wolle und er nickte. Ich las ihm also alles Punkt für Punkt vor und er nickte und nickte. Am Ende setzte ich ihn im Bett auf, drückte ihm einen Kuli in die Hand und zeigte ihm wo er unterschreiben solle. Er setzte an, versuchte es und nuschelte: „Ich kann nicht.“ Es war nur ein Krakel, der nichts mit seiner Unterschrift zu tun hatte. Er sah mich tieftraurig an und ich fühlte mich wie innerlich erstarrt. Ich nahm alle meine Kraft zusammen, lächelte und sagte: „Mach dir deine keine Sorgen, Papa. Das bekommen wir schon anders hin.“ Eine Träne kullerte ihm über die Wange, er setzte den Kopfhörer auf und starrte zum Fernseher. 2 Minuten später nickte er ein. Ich ging aus dem Zimmer, verliess das Krankenhaus, fuhr an die Elbe und schrie, heulte und schrie.
Eine Stunde später kehrte ich zurück ins Krankenhaus. Er schlief immer noch. Ich packte meine sichtlich mitgenommene Mutter ein und wir fuhren nach hause.

Am Montag sprach ich mit der Stationsärztin darüber und sie erklärte sich bereit, sowohl Patientenverfügung als auch Vorsorgevollmacht als Zeugin zu unterschreiben und zu bestätigen, dass mein Vater klaren Verstandes ist und nicht eigenhändig unterschreiben kann.
Wir alle haben das tapfer durchgehalten und ich war sehr erleichtert, dass es doch noch geklappt hat.

Anschliessend habe ich mit der Stationsärztin gesprochen. Sie hat mir auf den CT-Bildern den Lungentumor gezeigt. Er hat einen Durchmesser von fast 5 cm, sitzt zentral und drückt bereits auf Luft- und Speiseröhre. Das schlechte sei, wie sie sagte, dass Tumore an dieser Stelle meist sehr schnell wachsen, aber auch sehr gut auf Chemo ansprechen. Ein Fünkchen Hoffnung. Der verglomm allerdings sofort wieder, als sie mir sagte, dass im CT bereits mehrere Lebermetastasen zu finden seien. Es solle jetzt eine Bronchoskopie gemacht werden, um den Tumor zu bestimmen und ein MRT, um die Ursache der Doppelbilder, des Schwindels, der Sprachprobleme und der Koordinationsprobleme zu finden.
Beides solle am Dienstag durchgeführt werden.

Das MRT wurde gemacht und zum Erstaunen aller wurden weder Hirnmetastasen, noch Hinweise auf einen Schlaganfall gefunden. Immerhin.

Die Bronchoskopie musste abgebrochen werden, weil die Atmung aussetzte und sie „meinem Vater kurzzeitig helfen mussten“, wie die Ärztin es ausdrückte. Ihr könnt euch wohl denken, was das heisst.
Das hat mein Vater überraschend gut weggesteckt. War zwar Dienstag sehr müde, aber sonst ist keine Verschlechterung seines (ohnehin miserablen) Zustand eingetreten.
Die Bronchoskopie soll nun am morgigen Freitag unter Vollnarkose und Einbeziehung eines gesamten Notfallteams durchgeführt werden.

Gestern war meine Mutter ab mittags bei ihm und ich kam erst gegen 18.00 Uhr ins Krankenhaus, da ich wieder arbeiten gegangen bin – vorher hatte ich einige Tage frei genommen.

Er hat nochmals abgebaut. Hat Schwierigkeiten das Wasserglas zu halten und das Sprechen strengt ihn unglaublich an. Ausserdem kann man ihn fasst nicht mehr verstehen. Nur mit sehr viel Fantasie und Assoziationvermögen. Meine Mutter versteht ihn gar nicht mehr, was er manchmal mit sehr aggressiven Reaktionen quittiert. Es ist schrecklich. Für alle Beteiligten.
Auf der Rückweg sagte mir meine Mutter, dass sie glaube, er baue nun auch geistig ab. Sei verwirrt, macht Gesten, die er noch machte, nicht mehr er selbst...
Der HNO hat ihn gestern noch angeschaut und stellte eine Nasennebenhöhlenentzündung und beidseitige Polypen fest. Nichts, was die „Kopfbeschwerden“ erklären würde.

Heute soll sich das ein Augenarzt anschauen – mal gucken.

Das ist also, was meine Welt in Trümmer schlug.

Ich habe Angst. Gar nicht mal so sehr davor, dass mein Vater stirbt, sondern vor dem Weg dahin.
Mein Vater ist nur noch ein Schatten seiner selbst. Jede Kraft aus ihm gewichen, unfähig zu gucken, zu sprechen aufzustehen, sich aufzusetzen, selbst zu essen (kauen und schlucken geht noch), kurzum. Der Krebs hat ihn im Wrack seines Körpers eingeschlossen. Das ist schlimm für alle Beteiligten. Aber wenn ich daran denke, wie schlimm es für meine Mutter und mich ist und dann mir versuche vorzustellen, wie schlimm es für ihn sein mag, dann wird mir übel. Er will uns vermutlich noch viele Dinge sagen – ich denke, er weiss was die Uhr geschlagen hat – und kann es nicht.
Ich habe keine Ahnung, wie es weiter gehen soll, weiss aber trotzdem wie es weitergehen wird. Eine paradoxe Situation. Natürlich muss erstmal die endgültige Diagnosestellung abgewartet werden, aber wenn man meinen Vater sieht, dann erkennt man die gesamte Situation auf einen Blick.
Er hatte bereits vor 12 Jahren Stimmbandkrebs, woraufhin man ein Stimmband entfernte. Er rauchte weiter und das nicht wenig und verweigerte jegliche Nachsorgeuntersuchung. Hatte vor 15 Jahren einen Hinterwandherzinfarkt, den er wie durch ein Wunder überlebte, obwohl er erst nach drei Tagen ins Krankenhaus ging. Vor 4 Wochen hat er vor seinem Urlaub noch einen Weg von der Garage zum Haus mit Granitsteinen gepflastert und jetzt...

Das alles klingt vielleicht so, als würde ich meinen Vater vorschnell abschreiben und todweihen. Aber das sind meine Gefühle, Befürchtungen und Ängste. Raum für Hoffnung ist nur sehr klein.

Ich befürchte, dass er die Vollnarkose morgen nicht verkraftet und bin nicht sicher, ob er das Krankenhaus noch einmal verlassen wird.
Die Rasanz seines Verfalls ist überwältigend.

Meine Mutter und ich sind uns einig, dass wenn es irgend geht wir ihn nach hause holen, sobald klar ist, was wird und was man (nicht mehr) machen kann.

Das ist sein einziger Wunsch. Er will nach hause.

Ich wünsche ihm Erlösung.

Und schäme mich dafür.
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