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Alt 06.02.2005, 21:33
Gast
 
Beiträge: n/a
Standard Hinterbliebene sind Aliens

Liebe Leute,

ich bin so froh, dieses Forum endlich gefunden zu haben! Denn ich habe immer wieder den Eindruck, als müsse man Trauernde, vor allem solche, die im Angesicht des Ablebens nicht voller Schiss weggelaufen sind, so schnell wie möglich zum Schweigen bringen, damit die heile Welt der anderen keinen Schaden nimmt. Manchmal habe ich das Gefühl, an dieser Ignoranz innerlich zu zerbrechen.

Vor drei Monaten habe ich meinen besten Freund im Alter von nur 23 Jahren verloren. Nach der ersten Diagnose (schwarzer Hautkrebs) vergingen nicht einmal sieben Monate, bis er Ende September auf die Palliativstation kam. An jenem Tag habe ich alles stehen und liegen lassen und bin in meine Heimatstadt gefahren, wo er nun von seinen Eltern betreut wurde. Ahnungslos, was eine Palliativstation sei, glaubte ich zunächst seinen Beruhigungen, er würde dort nur wieder aufgepäppelt werden. Fünf Wochen später war er tot.

Ich bin die ganzen fünf Wochen nicht von seiner Seite gewichen, habe mein eignes Leben samt aller Verpflichtungen auf Eis gelegt (Erstaunlicherweise geht das!), um täglich zehn Stunden an seinem Bett zu sitzen. Nach zwei Wochen im Krankenhaus konnte er nach Hause verlegt werden, wo er schließlich gestorben ist. Das bedeutete natürlich, dass alle mit anpacken mussten. Es waren nicht einfach Krankenbesuche, sondern teilweise harte Pflegearbeit. (Viele von Euch werden das kennen.)

In dieser Zeit war ich wie betäubt. Ich hatte eine Aufgabe und musste stark sein, für eine emotionale Bewältigung der Situation blieb keine Zeit. Auch in den Wochen danach war ich noch so betäubt von dem "Arbeitseinsatz", dass an Trauern kaum zu denken war. Als ich fünf Wochen später endlich mit dem Trauern beginnen konnte, kam mein Vater mit einer schweren Krankheit ins Krankenhaus. Also wieder zurück zu den Eltern, wieder vier Wochen jeden Tag ins Krankenhaus gehen. Es kam Weihnachten, Silvester, Intensivstation, wieder innerlich Abschied nehmen. Mein Vater hat es geschafft, doch das Erlebnis, die Nerven, die Angst, waren wieder die gleichen. Wieder blieb für Verarbeitung keine Zeit, stattdessen kam noch ein Horror-Erlebnis dazu.

Seit Mitte Januar versuche ich nun, wieder gemäßigt zu leben und all das hinter mir zu lassen. Ich hätte großen Redebedarf, doch wer will das schon hören? In dieser gesamten Zeit habe ich mehrere Freunde verloren, da sie mit meiner Situation völlig überfordert waren. Ich musste nicht einmal ins Detail gehen, einzig der Fakt hat sie in die Flucht geschlagen. Anrufe und Emails werden nicht beantwortet. Schweigen. Missachtung. Feigheit.

Die Freunde, die nicht weggeblieben sind, verliere ich nun Stück für Stück, weil sie kein Verständnis dafür aufbringen können, dass ich mich in den letzten vier Monaten sehr verändert habe. Das Resultat ist, dass ich mich in meinem Alltag fühle wie ein Alien.

Die Trauer, der Verlust, das Abschiednehmen und Gehenlassen - das ist eine Sache. Das allein braucht schon genug Kraft. Doch die Erfahrung, die damit darüber hinaus verbunden ist, ist eine ganz andere: Wochenlang zu sehen, wie ein geliebter Mensch leidet. Sich die Seele aus dem Leib kotzt, nicht mehr aufstehen kann, nicht mehr essen, nicht mehr trinken. Wie das Morphium ihm jeden Tag etwas mehr den Verstand vernebelt, bis schließlich gar kein Gespräch mehr möglich ist. All das zu erleben. Nicht wegzusehen. Dazubleiben. Das prägt. Manchmal fühle ich mich mit 24 Jahren wie eine alte Frau. Was dazu führt, dass mich schlichtweg niemand mehr versteht! Aber wie auch, wenn sich keiner traut, richtig zuzuhören? (Dass jemand versucht, sich einzufühlen, will ich schon gar nicht erwarten, das halte ich für nahezu unmöglich.)

Ich war neulich richtig erschrocken, als ich feststellte, dass erst drei Monate vergangen sind. In der Zwischenzeit ist so viel passiert, dass es mir wie eine Ewigkeit vorkommt. Doch nun, wo ich wieder etwas zur Ruhe komme, kommt auch immer mehr das Bedürfnis nach aktiver Verarbeitung. Im Moment habe ich das Gefühl, einfach nur über alles reden zu wollen. Über das Erlebte, die Konsequenzen, die Schwierigkeiten im Alltag, meine veränderte Weltsicht usw. Doch die wenigen Möglichkeiten, die sich dazu bieten, enden damit, dass man kluge Ratschläge bekommt. Wohlgemerkt von Leuten, die nicht die leiseste Ahnung haben, weil sie selbiges nie erlebt haben! Dass ich stark sein kann und nach genug Weinen und Schluchzen mich da selbst wieder rausziehen kann, brauche ich eigentlich keinem mehr zu beweisen. Aber ich will keine Ratschläge! Ich will keine Zauberformel! Ich will einfach mal erzählen! Mich anlehnen und einfach mal schwach sein.

Schön, dass das hier wenigstens möglich ist.

Vielen Dank fürs Zuhören!

Was habt Ihr für Erfahrungen gemacht mit den Nachwirkungen von Sterbebegleitung?
Wie hat sich dieses Erlebnis auf Euch ausgewirkt?
Wie hat Eure Umwelt auf Eure innerlichen Veränderungen reagiert?
Gibt es irgendwelche sinnvollen Ratschläge, wie man mit dem Unverständnis und der Taubheit der anderen klarkommen kann, ohne sich selbst dabei zu verkapseln?

Liebe Grüße und einen guten Wochenstart wünscht Euch


jabka
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